Ewiger Sündenablass und niederschwellige Prostitution – Unterwegs mit Nonne Aura Scortea Beneficia

© Clint Lukas

Ich bin mit einer Nonne verabredet. Sie gehört zum Orden der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz. Und hat einen prächtigen Bart.
Als ich in Schöneberg ankomme, bin ich wie immer zu früh. Gehe deshalb noch auf ein Bier in den Neuen Oldtimer gegenüber unseres Treffpunktes. Schneidige Barkeeper hinterm Tresen. Davor, jeder für sich auf einem Hocker: Ehrwürdige Herren im besten Alter, die synchron ihre Köpfe heben und mir einladend zulächeln.

Als es Zeit wird und ich den Finger zum Zahlen hebe, spricht mein Nachbar mich an: „Jetzt haben wir lange genug schweigend nebeneinander gesessen, oder? Mein Name ist Pierre.“
„Grüß dich, Pierre. Ich heiß Clint. Und muss leider los. Hab noch ein Date.“
„Hoffentlich nichts Geschäftliches?“
„Doch. Eigentlich schon.“

Mein Abgang wird von den spöttischen Blicken der anderen Großväterchen verfolgt. Ich gehe über die Straße in die Lobby des Axel Hotels. Männliche Körper, kunstvoll fotografiert, zieren die Wände. Der Rezeptionist grüßt mich mit sanfter Stimme. Und dann entdecke ich sie: Schwester Aura Scortea Beneficia. Sie trägt einen dunkelblauen Sternenhimmel-Pyjama und Sportschuhe. Fingerlange Wimpern im weißgeschminkten Gesicht. Auf dem Kopf eine Haube aus einem gestärkten Spitzen-BH mit blauem Schleier.
„Bist du Aura?“, versuche ich lustig zu sein. Sie grinst und bietet mir einen Platz an.

Wir sind echte Nonnen. Das zeigt sich in dem, was wir tun.

Der Orden der Perpetuellen Indulgenz, was soviel heißt wie „Ewiger Sündenablass“ oder „Ewige Lebensfreude“ wurde 1979 in San Francisco gegründet. Seit 1993 gibt es ein Ordenshaus in Berlin. Die Schwestern, die sich selbst als queere Nonnen des 21. Jahrhunderts bezeichnen, engagieren sich unter anderem als Mitgliedsorganisation der Deutschen Aidshilfe.

„Wie lange hast du fürs Schminken gebraucht?“, frag ich.
„Ha, das wollen alle immer als Erstes wissen. Heute gar nicht so lange. Siebzig Minuten vielleicht. Aber nur, weil ich den Bart nicht gefärbt habe.“
„Warum verkleidet ihr euch eigentlich so?“
„Naja, genau genommen ist es keine Verkleidung. Eher Arbeitskleidung.“ „Okay. Was ich meine ist, was denken zum Beispiel echte Nonnen von euch?“
„Wir sind echte Nonnen“, sagt Aura und beugt sich zu mir. „Das zeigt sich in dem, was wir tun. Wir helfen den Notleidenden und Bedrängten, wir begleiten Menschen durchs Leben. Auch unsere Ausbildung ähnelt der von religiösen Nonnen.“

„Aber provoziert eure Tracht nicht auch?“, frag ich. „Wirst du manchmal angegriffen?“
„Ganz selten. Natürlich gibt es immer wieder mal aggressive Spinner. Aber seit ich Rugby spiele, hab ich da keine Angst mehr.“
„Du spielst Rugby?“
„Ja“, sagt Schwester Aura. „Ich bin sogar Rugby-Trainer. Und wenn’s nötig ist, weiß ich, wie man jemanden außer Gefecht setzt, ohne ihn allzu sehr zu verletzten.“ Sie strahlt übers ganze Gesicht. „Okay, vielleicht ginge das ein oder andere Rippchen zu Bruch.“
„Dir ist da ein Glitzerstern abgefallen.“
„Machst du ihn mir wieder dran?“
Ich puhle den Stern aus Auras Bart und klebe ihn zurück auf ihre Wange.

Kondome verteilen und zuhören

„Und was machen wir heute?“, frag ich dann.
„Ich dachte, wir gehen erstmal ins Prinzknecht. Ein paar Kondome verteilen. Und der Gemeinschaft der versammelten Gläubigen unser Ohr leihen. Kannst du den Korb nehmen?“
„Klar“, sag ich. „Im Korbtragen bin ich ein Wikinger.“

Auf dem Weg erzählt Aura, dass der Orden in San Francisco nicht nur die weltweit erste Safer-Sex-Infobroschüre rausgebracht hat, sondern dass auch die Regenbogenflagge von einer der Schwestern entworfen wurde.

Vorm Prinzknecht, einer Männerkneipe in der Fuggerstraße, sind alle Biertische besetzt. Doch als sie Aura sehen, winken uns etliche Jungs zu sich und rücken zusammen. Wir landen bei einem Typen mit Bomberjacke, der Aura augenblicklich sein Herz ausschüttet.
„Mein Ex ist so kompliziert“, schreit er. „Dauernd ruft er an. Da, kuck! Schon wieder! Was soll ich bloß machen?“
Aura hört seinen Tiraden aufmerksam zu, hält zwischen durch seine Hand. Ich komm mir komisch vor, so plötzlich in ein fremdes Privatleben gezogen zu werden. Als der Typ sich beruhigt hat, fragt er Aura nach einer Empfehlung für die kommende Wahl. Dann dreht er sich plötzlich zu mir: „Wer bist du eigentlich? Du sitzt hier nur die ganze Zeit und sagst nix. Du bist doch wohl nicht der Toyboy von Aura?“
„Ich trage den Korb“, sag ich.
„Soso. Willst du auch Schwester werden?“
„Ich weiß noch nicht so genau.“

© Clint Lukas

Als er reingeht, um sich ein neues Bier zu holen, will ich von Aura wissen, wie man denn Schwester wird.
„Nach deiner Bewerbung bist du zuerst Aspirantin. Du begleitest uns, hilfst bei Empfängen und Festen. Dann steigst du zur Postulantin auf. Da darfst du dir dann das Gesicht schon weiß grundieren.“
„Warum eigentlich weiß?“
„Das steht für den Tod. Dem setzen wir mit unserem farbigen Make-up das Leben entgegen. Wenn du nach sechs Monaten Novizin bist, darfst du dich nach Herzenslust schminken. Und nach einem Jahr bist du dann vollwertige Schwester und darfst auch einen farbigen Schleier tragen.“
„Ist ja wie bei den Hell’s Angels.“
„Was meinst du?“
„Da ist man auch erst Hangaround und Prospect und muss sich an die Abzeichen halten.“
„Ach so, naja. Nicht ganz. Aber stimmt, wir sind auch Mitglied bei ‚Biker ohne Grenzen’.“

Hallöchen, darf ich dich kondomisieren? Hast du schon ein Kondömchen gekriegt?

Wir drehen schließlich eine Runde durchs Prinzknecht. Ich reiche den Korb an, während Aura Kondome und Flyer verteilt: „Hallöchen, darf ich dich kondomisieren? Hast du schon ein Kondömchen gekriegt? Da ist auch Gleitgel dabei, kannst also allein Spaß damit haben.“
Fast jeder der Adressaten steckt Münzen oder Scheine in Auras Klingelbüchse. Hin und wieder wird sie jedoch brüsk abgelehnt.
„Naja, so sind halt manche“, erklärt sie mir später. „Die können mit dem vermeintlich Tuntigen nix anfangen. Früher war das normal, dass man als Schwuler cool und butch sein musste. Das ist auch sowas, was die Schwestern mit ihrer Selbstironie durchbrechen wollen.“
„Wirst du eigentlich oft angebaggert?“, frag ich.
„Kaum. Die Leute begreifen uns, glaub ich, als neutrale Wesen. Als Nonnen halt. Außerdem haben wir keinen Sex, wenn wir unsere Ordenstracht tragen. Schau!“ Sie zeigt mir einen Button an ihrer Brust, auf dem „Teilzeit-zölibatär“ steht.

Hier gibt’s viel niederschwellige Prostitution

Wir gehen auf der Fuggerstraße nach Osten, verteilen Kondome im Blond. Als wir am Tabasco vorbei kommen, rufen uns mehrere Typen Sachen nach, die ich nicht verstehen kann. Aura bietet unerschütterlich ihre Pariser an.
„Warum sind die so aggro?“, frag ich.
„Hm, ein schwieriger Laden. Hier gibt’s viel niederschwellige Prostitution. Also Jungs, die sich auf Getränke einladen lassen. Aber auch richtige Stricher und Kriminalität. Ungut. Aber da können wir kaum helfen. Dafür gibt’s andere Organisationen. Hilfe für Jungs, zum Beispiel.“

In der Lieblingsbar treffen wir auf einen Junggesellenabschied, den Aura prompt kondomisiert.
„Die sind besonders reißfest“, sagt sie. „Eignen sich also auch gut fürs Hintertürchen.“
„Wir sind doch nicht schwul“, ruft einer der Typen erschrocken.
„Ja und? 68% der Hetero-Pärchen praktizieren Analverkehr. Das sind 5% mehr als bei den Homos.“
„Und habt ihr auch was für Frauen?“, wagt sich die Braut nach vorn.
„Tut mir leid“, sagt Aura. „Wir kriegen eventuell bald Goodie-Bags für Frauen. Aber das Problem ist, dass es keine elektronisch geprüften Lecktücher gibt. Wenn du ganz sicher gehen willst, musst du immer noch ein Kondom aufschneiden und über die Klitoris legen.“
Ganz schon umständlich, denk ich. Die Braut sieht nicht so aus, als wollte sie’s so genau wissen. Trotzdem spendet sie einen Schein.

„Was macht ihr denn mit dem Geld?“, frag ich, als wir uns zum Ausruhen in einen Hauseingang setzen.
„Ganz unterschiedlich. Neulich hat uns der Pflegedienst Felix um Hilfe gebeten. Der betreut HIV-erkrankte Menschen und hat eine neue Waschmaschine gebraucht. Die haben wir zum Beispiel finanziert.“
Ein Arbeiter im Blaumann hält mit seinem Fahrrad und drängelt sich zwischen uns in das Haus.
„Kondömchen?“, fragt Aura.
„Wat? Ach, Quatsch. Ick fick doch schon längst nich mehr!“

„Seid ihr eigentlich nur für schwule und Trans*-Menschen da?“, frag ich, nachdem er weg ist.
„Lesbisch hast du vergessen.“
„Ja, und lesbisch.“
„Grundsätzlich sind wir offen für alle Menschen. Aber klar, das Queere dominiert schon. Wir sind schließlich Schwestern.“

„Ich bin ganz schön müde.“
„Ziemlich schwer so ein Korb, was?“
„Ziehen wir denn noch weiter?“
„Ach, weißt du. Ich hab grade CSD und das Stadtfest hinter mir. Übermorgen ist Mitglieder- Versammlung. Wegen mir können wir Schluss machen.“
„Soll ich dich noch zum Bus begleiten?“
„Nicht nötig, du hast schon genug geholfen.“
„Was ein Toyboy eben so macht.“
„Ja, du Wikinger“, lacht Aura. Wir umarmen uns zum Abschied. Ihr Bart kitzelt an meinem Ohr. Dann geht sie dahin. Aura Scortea Beneficia - der Lebenshauch der ledernen Wohltat.

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