Einsamkeit: Über die Insel in jedem von uns
Es gibt eine Insel, die heißt Einsamkeit. Sie ist 11,5 Kilometer lang, 5,2 Kilometer breit und ihre höchste Erhebung ist 30 Meter hoch. Am Ufer in südlicher Richtung steht eine verlassene Wetterstation, aber den Wärter gibt es schon lange nicht mehr. Vor ziemlich genau zwanzig Jahren hatte er seinen letzten Dienst, knipste ein letztes Mal die Gaslampe aus und setzte ein letztes Mal mit seiner Barkasse über aufs Festland. Seitdem rottet die Wetterstation träge vor sich hin. Der kalte Wind pfeift durch die Mauerritzen und die losen Fensterflügel schlagen rhythmisch leise gegeneinander. Man könnte hier gut ein Arthaus-Drama drehen. Oder einen Horrorfilm, aber da sind die Grenzen ja fließend. Auf der spärlich bewachsenen Insel regt sich nichts. Selbst Tieren ist es hier zu einsam.
Einmal in den Zug gestiegen, scheint ein seltsamer Sog von der Einsamkeit auszugehen.
Und doch gibt es Besucher. Fast jeder von uns war schon einmal dort. Manche haben sogar einen festen Standplatz für ihr inneres Wohnmobil. Verbringen ganze Wochen in der Einöde und lassen sich kühl umfassen von der sedierenden Wirkung, die die Insel auf jeden hat, der einen Fuß auf sie setzt. Wer hier herkommt, hat einen langen Weg hinter sich. Die Anreise zur Insel führt durch schattige Täler, über Hügel und Schluchten, durch dunklen Wald genauso wie durch lichte Tundra. Man könnte anhalten, wenn man wirklich könnte. Aber einmal in den Zug gestiegen, scheint ein seltsamer Sog von der Einsamkeit auszugehen. Eine ganze Weile lang ist die Fahrt sogar ganz komfortabel. Man sitzt recht bequem, während draußen die Landschaft am Fenster vorbeigetragen wird. Niemand spricht, niemand stört. Ruhe, ja, eine gewisse Ruhe hat das alles. Eine, die man sonst oft vermisst, fast vergisst und dann umso mehr begrüßt.
Man beschlägt von innen, wie Altbaufenster im Winter. Die Sicht wird trüb, die Gefühle werden klamm und hängen schwer wie nasse Wäsche im Brustkorb.
Zumindest am Anfang. Denn die zufriedene Ruhe wird bald kühl, dann eisig. So sanft aber, dass es kaum möglich ist, den Moment zu erspüren, wenn die Temperatur zu tief sinkt. Man beschlägt von innen, wie Altbaufenster im Winter. Die Sicht wird trüb, die Gefühle werden klamm und hängen schwer wie nasse Wäsche im Brustkorb. Die anderen, die Menschen, zu denen man mal gehörte, sind längst außer Sicht. Man erschrickt nicht darüber, man konstatiert. Allein jetzt also, nun, na dann. Vielleicht ist das der traurigste Moment der Reise, wenn der Abschied aus der Wärme verkannt wird als das Eintreten in eine Unabhängigkeit. Es ist der Moment, indem sich die Schlinge zuzieht.
Jeder findet seinen Weg zur Einsamkeit, wenn es an der Zeit ist.
Denn von nun an übernimmt die magnetische Anziehungskraft der Einsamkeit das Regiment. Zieht stärker, wirkt vertraut und sicher. Keine Menschen, keine Gefahren. Die Umwelt wirkt so feindlich, besser, man bleibt auf Distanz, macht sich auf den Weg zur friedlichen Insel. Man fährt die inneren Schutzmauern hoch. Legt sich Projektionsflächen bereit, um sich in schwachen Augenblicken versichern zu können, dass die anderen Schuld sind daran, dass man nun im Zug nach Einsamkeit sitzt.
Denn Großstadt macht einsam. Internet macht einsam. Arbeit macht einsam. Fernsehen macht einsam. Keinen Hund zu haben macht einsam, keine Zimmerpflanzen zu besitzen macht einsam, Erdnussflips, Immobilienfonds, Bushaltestellen, Vanillesoße aus dem Tetrapack – das macht doch alles einsam. Die moderne Welt, das Leben. Besser, man fährt gleich weg davon, freiwillig, selbstbestimmt. Einsamkeit ist die Insel der Entwurzelten, der Nackten und Klugen, die ein bisschen zu genau hingesehen haben und ein bisschen zu angreifbar gewesen sind. Und die der Trägen, der Feigen, der Dummen und Verrückten. Jeder findet seinen Weg zur Einsamkeit, wenn es an der Zeit ist. Wie lange man bleiben wird, kann man vorher nicht wissen.
Wer die Insel wieder verlassen will, braucht Mut.
Wer die Insel wieder verlassen will, braucht Mut. Mut, sich wieder dem kratzenden, beißenden Leben mit seinen Enttäuschungen und Unterdurchschnittlichkeiten und überhaupt der ganzen Banalität des Seins auszusetzen. Das muss man aushalten wollen. Wer die Insel wieder verlassen will, braucht Kraft. Viele brauchen mehrere Versuche, um den ganzen Weg zurück zum Festland zu rudern. Lassen sich zurücktreiben auf halbem Weg. Müssen am Ufer ausruhen. Bekommen Angst vor der Wiederkehr. Ist die Ich-förmige Lücke noch da? Manche geben auf.
Wer die Insel wieder verlassen will, braucht Helfer. Sie müssen Leuchtkraketen in den sternenlosen Himmel schießen, zur Orientierung. Sie müssen laut den Namen brüllen, weil man ihn sonst vergisst. Sie müssen schon von weitem zu sehen sein, mit den Armen in der Luft rudern und ein Schild schwenken wie die Leute am Flughafen. Sie dürfen nicht aufhören. Sie dürfen wirklich niemals aufhören.
Es gibt eine Insel, die heißt wirklich Einsamkeit. Sie liegt im Norden Russlands in Region Kransnojarsk in der Karasee, auf dem 77. Längengrad und dem 82. Breitengrad. Und in jedem von uns.
Ilona Hartmann