Reklamation, ich möchte bitte meine heile Welt zurück!
„There is a crack in everything, that’s how the light gets in“, singt Leonard Cohen und nichts könnte in diesen Tagen trauriger klingen. Übertragen auf das Jahr 2016 könnte man meinen, es habe schon genügend „cracks“ gegeben. Das, was durch sie hereinkam, war mitnichten „light“, sondern Trump, Brexit, die Trennung von Brangelina und der Tod von einigen Gründervätern und -müttern unserer Popkultur. In den Redaktionen wird viel geseufzt und lamentiert und überhaupt: Nachrufe, Klagen und Verwünschungen allerorts.
Wir, die klugen Twens im Internet, haben uns mit unseren Memes, Gags, Tweets und zynischen Kommentaren in Echtzeit an den Ereignissen abgearbeitet, wir bräuchten gar keinen Jahresrückblick. Für uns stand schon seit Bowies Tod im Januar fest: 2016 kann weg. Und wer jetzt im Winter zur Beruhigung Harry Potter anschaut, heult erstmal wegen Alan Rickman. Wirklich, Leonard, dieses besungene Licht, ich seh's gerade nicht.
2016 ist nicht nur ein "schlechtes" Jahr, es ist das Ende einer Ära
Das Problem ist: 2016 ist nicht nur ein "schlechtes" Jahr. Es ist das Ende einer popkulturellen Ära. Und mehr noch: Es ist der für alle spürbare Beginn einer schlechten Phase von unbestimmtem Ausmaß und unbekannter Länge. Das klingt pessimistisch, nach Apokalypse vielleicht sogar. Es ist im Grunde aber nur der logische depressive Realismus, zu dem man gelangt, wenn man Geschichtsbücher liest und in großen Kontexten zu denken vermag. Die Geschichte der Menschheit als ein sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte ausdehnendes Wechselspiel von Entwicklung und Regress, Selbstvernichtung und Wiederaufbau hat langsam, aber immer deutlicher die Richtung gewechselt. Im Moment deuten alle Zeichen daraufhin, dass mal wieder eine Abfahrt an der Reihe ist.
Wie, frage ich mich, wie konnte das passieren? Keiner in meiner Facebook-Timeline wählt AfD oder sympathisiert mit Trump, wo kommen denn die ganzen Leute mit dem von meiner Seite des Ufers aus gesehenen falschen Weltbild her? Natürlich ist unsere Filterblase ein Problem, zumindest sobald wir sie für die Realität halten und die Millionen anderen Menschen da draußen im echten Leben vergessen. Die, die sich nur einmal in der Woche bei Facebook einloggen, um ein verwackeltes Bild von ihrem Schäferhund zu posten. Doch die sind es am Ende, die in die Wahllokale gehen und das Kreuz dort machen, wo mir schwindelig wird.
Die Sache ist: Ich fühle mich verraten.
Aber wenn es nur das wäre. Wenn es nur darum ginge zu akzeptieren, dass mir meine Filterblase eine Lebensrealität vorgegaukelt hat, die jetzt sehr unsanft bröckelt. Im Grunde ist mein Gefühl noch ein ganz anderes, ein unfeines, egoistisches, über das ich lieber schweigen würde, aber es nicht tue, weil man manche Dinge in Worte fassen muss, um sie bewältigen zu können. Die Sache ist: Ich fühle mich verraten. Ich und wahrscheinlich noch viele andere meiner Generation wurden aufgezogen mit dem Credo, dass für uns alles möglich ist. Dass wir alles sein und überall alles tun können. Dass diese Welt ein sicherer, freundlicher Ort ist, der nur dazu dient uns Leinwand, Spielplatz und Startrampe für unseren postironischen Größenwahn zu sein. Und nun, angesichts der Großlage, wird mir plötzlich klar: Das war gelogen. Es geht überhaupt nicht um uns. Unsere Generation wird gerade unsanft desillusioniert von der Idee, dass uns die Zukunft und damit die Welt gehört. Unsere Trump-Memes interessieren keine Sau da draußen.
Natürlich ist unsere Filterblase ein Problem, zumindest sobald wir sie für die Realität halten und die Millionen anderen Menschen da draußen im echten Leben vergessen.
Die klugen Sprüche, die wir ins Internet geschrieben haben, die treffenden Kommentare, die ich gelikt, geteilt oder mit einem Lesezeichen markiert habe, sie haben versagt. Sie haben eine Sicherheit und Richtigkeit der Dinge suggeriert und ich habe ihnen vertraut. Nicht nur, weil es meine Vorstellungskraft überstieg, dass es nur ein Teil der Wahrheit sein könnte, sondern vor allem, weil ich die vollumfängliche Wahrheit gar nicht wissen will. Denn die bedeutet, dass ich in einer Welt lebe, die sich mit ihren düsteren Farben so gar nicht einfügen mag in meinen großen, narzisstischen Lebenstraum vom feinen Leben. Ohren, Augen und Tabs schließen ist leider keine tragende Methode, ich habe das auf die harte Weise gelernt.
Ein Freund von mir sagte neulich „Ein Teil von mir ist erleichtert, dass es Trump geworden ist“ – nicht, weil es da rein faktisch auch nur geringsten Anlass zur Erleichterung gäbe. Aber es ist der Spiegel der Realität, die unbequeme Wahrheit. Diese zu kennen, ist in gewisser Weise erleichternd, weil sie in all ihrer Unsicherheit verlässlicher ist als jede wohlige Lüge, bei der es aber unter der Oberfläche brodelt. Ja, wir leben in dieser Zeit, ja, es ist wahr.
Mit der Wahrheit umzugehen ist verdammt anstrengend
Mit der Wahrheit umzugehen ist in den seltensten Fällen einfach oder komfortabel. Meistens, und so auch jetzt, ist es verdammt anstrengend. Pfui, wie unbequem. Anstatt über politische Partizipation würde ich viel lieber über einen spontanen Kurztrip nach Stockholm oder mein nächstes "Projekt" nachdenken. Man kann mich durchaus für meine Verblendung auslachen und sich die Haare raufen über so viel Millenial-Ignoranz. Leider glaube ich aber auch, dass ich damit nicht allein bin, sondern dass in vielen Anfangmittezwanzig-Köpfen gerade dassselbe abläuft. Natürlich redet niemand darüber, geht ja schlecht, nach all dem überheblichen Zynismus. Und ich würde diesen Text gerne mit etwas Konstruktivem beenden, mit einer positiven Aussicht und einer konkreten Idee, was jetzt am besten zu tun sei, wie man das eben so macht mit solchen Texten. Aber das geht nicht – oder noch nicht. Ich muss nachdenken. Und die Scherben meines Weltbilds zusammenkehren. Uff.
Ilona Hartmann