Berlin ohne nervige Touristen wäre nur halb so schön

© Lili Ingmann

Berlin Mitte im Juli, Sonne, 28 Grad, S-Bahnhof Friedrichstraße. Ich stehe in der S7. Neben mir, hinter mir, vor mir: Menschen. Zwischen meinen Beinen haben sich ein fremder Koffer und ein klebriges Kind verhakt. Alle schwitzen. Als die Bahn hält, steigen etwa 8 Personen aus und 800 ein. Ein Stimmengewirr aus Spanisch, Französisch, Englisch und Nochniegehört erfüllt die schwere Luft und bei der tastenden Suche nach Halt legt sich kurz eine warme, feuchte Hand auf meine. Das wären normalerweise genügend Gründe für mich, mit angehaltener Luft aus dem Waggon zu stürzen und die zwölf Kilometer bis zu meinem Ziel zu Fuß zu gehen.

Ja, Touristen tun schreckliche Dinge – in Großgruppen verwirrt auf Radwegen herumstehen, auf dem Holocaust-Mahnmal turnen und Mustafas Gemüsedöner essen.

Aber in letzter Zeit, genauer gesagt seit Sommer- und Ferienbeginn, bin ich milde geworden – vielleicht auch in gesundem Maße ein wenig abgestumpft, aber eben doch mit wohlwollendem Tenor. Vor allem gegenüber einer Personengruppe, die in Berlin keinen guten Ruf genießt, hege ich zunehmend positive Gefühle: Touristen. Denn ja, Touristen tun natürlich schreckliche, unverzeihliche Dinge – in Großgruppen verwirrt auf Radwegen herumstehen, auf dem Holocaust-Mahnmal turnen und Mustafas Gemüsedöner essen. Berliner haben dafür verständlicherweise nur Verachtung und Augenrollen übrig. Aber abgesehen von den Dingen, die man als Tourist eben so tut, wenn man sich nicht fürchterlich viel Mühe gibt, wie ein "Local" zu wirken, sind diese Leute vor allem eins: Menschen im Urlaub.

Menschen im Urlaub, die sich nur entscheiden müssen, ob sie zuerst ein Eis essen oder noch mehr große Kunst auf der Museumsinsel ansehen wollen. Menschen, die gerade zum ersten Mal in den Genuss von richtig guten Falafeln gekommen sind oder bei einer Bootstour auf der Spree Architektur bestaunt haben, die es in ihrem Heimatland überhaupt nicht gibt. Menschen, deren dringendstes Problem der Harndrang ihres Kindes ist oder die Frage, wie herum die Fahrkarte in den Entwertungsautomaten gehört. Menschen, die nach dem Motto "Keine Termine und leicht einen sitzen" ihre Tage verbringen, unbedarft den Selfie-Stick schwenken und sich eins pfeifen.

Touristen sind die bunten Zuckerstreusel auf der Eistüte des Berliner Sommers.

Touristen umweht immer ein angenehmer Hauch von Vergnügungslust, Genussfreude und ein bisschen Lethargie. Ihr Schweiß riecht nicht nach dem Stress der herannahenden Deadline und drängenden Terminen, sondern nach Bummeln in der Sonne, nach entspanntem Unterwegssein und der nonchalanten Indifferenz gegenüber den horrenden Getränkepreisen im Späti am Hackeschen Markt. Das macht sie zu einem wichtigen Gegengewicht in dieser Stadt, wo auf der anderen Seite viel bundfaltenhosige Geschäftstüchtigkeit herrscht und die Mundwinkel im 45-Grad-Winkel nach unten zeigen.

Und klar, wenn das nächste Mal auf der Warschauer Straße ein britischer Jugendlicher mit Sonnenverbrennungen zweiten Grades den oralen Brexit vollzieht und mir seinen letzten Wodka-Bull vor die Füße speit, während mir von hinten ein Rollkoffer in die Haxen fährt und ich gleichzeitig in drei englischähnlichen Dialekten nach dem Weg zum Berghain gefragt werde, erleide ich selbstredend wie jeder normale Mensch erstmal einen innerlichen Zusammenbruch.

Der zeitweilige Touristen-Overkill ist mir lieber als die betongraue Muffeligkeit Berlins.

Aber dann besinne ich mich einen Moment und beschließe, dass mir der zeitweilige Touristen-Overkill doch noch lieber ist als die konstante ganzjährige betongraue Muffeligkeit, die hierorts so gerne als "Berliner Schnauze" verkauft wird und die am Ende nur clever vermarktete schlechte Laune ist. Touristen sind die bunten Zuckerstreusel auf der Eistüte des Berliner Sommers: Lustig bunt, ein bisschen zu süß, ein bisschen zu viel – und damit genau richtig.

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