An alle "Ur-Berliner": Ihr seid doch nur Stubenhocker
Es ist immer der gleiche Shitstorm: Kaum wagt jemand das Unerhörte und schreibt eine Alltagsbeobachtung über unsere Stadt, kommen die Hater aus ihren Löchern. So ging es mir jedenfalls letzte Woche wieder, als ich hier die Frechheit besaß, mich als Berliner zu bezeichnen, obwohl ich nicht hier geboren bin.
Und dabei quält mich nicht mal so sehr das Gefühl, ausgegrenzt zu werden. Klar ist das nicht von der Hand zu weisen: Ich trete bei den Surfpoeten jede Woche mit Jacinta Nandi auf, eine Londonerin, die seit Jahren in Deutschland lebt. Sie schreibt provokative Texte, in denen sie den Deutschen ihre Eigenheiten unter die Nase reibt. Sie erlaubt sich auch das ein oder andere Urteil. Da kommt es auch immer mal vor, dass sich jemand im Publikum ereifert: „Wie kommst DU dazu, über Deutschland zu lästern? Du bist ja nicht mal Deutsche!“ Das hat einen unangenehmen Beigeschmack. Und so fühle ich mich, wenn ich lesen muss:
Aber viel mehr beschäftigt mich die Frage: Wen interessiert der Scheiß? Ich kenne eine Menge ECHTE Berliner. Menschen, die hier geboren wurden. Wobei man sich da bestimmt auch streiten kann. Ich meine, ist meine Tochter etwa Berlinerin? Sie wurde im Virchow geboren. Aber hey, ihre Eltern sind beide Zugezogene.
Deshalb frage ich euch, ihr lieben Ur-Berliner: Wenn ihr schon so nonchalant das Blut-und-Boden-Fass aufmacht, solltet ihr vielleicht so konsequent sein, nur die Leute als Berliner zu bezeichnen, die in der 3. oder 4. Generation hier leben? Oder der fünften? Man kann nie vorsichtig genug sein.
Wie gesagt, ich kenne ein paar gebürtige Berliner. Und soweit ich weiß, haben die sich noch nie mit dieser Frage beschäftigt. Es ist ja auch so kleinbürgerlich. Und vor allem: Als sich beispielsweise die Japaner um 1900 über Zuwanderung und fremde Einflüsse gesperrt haben, ist das zwar auch skurril, aber immerhin damit zu erklären, dass ihre Kultur sich davor über Jahrhunderte vollständig isoliert hat. Berlin dagegen war von Anfang an ein Ort der Zuwanderung. Aber das führt jetzt zu weit.
Ich frage mich nur, wer so kleinlich ist, auf sein Platzrecht zu pochen? Wie wenig Freude trägt man in sich, wenn man stolz auf seinen Geburtsort sein muss?
Nein, das werde ich nicht. Ich werde hier bleiben. Und dieser Stadt, die ich mehr als jeden anderen Ort liebe, weiter meinen Stempel aufdrücken. Denn das macht sie so kostbar. All die unverschämt fremden Einflüsse. Ihr echten Berliner seid doch nur Stubenhocker. Wie soll ich Respekt haben vor einem Charlottenburger, der noch nie in Ost-Berlin war? Oder vor einem Weddinger, der hinter der Pankstraße das Ende der Welt vermutet? Ihr wisst Berlin gar nicht richtig zu schätzen, weil ihr keinen Vergleich habt.
Ihr echten Berliner seid doch nur Stubenhocker. Wie soll ich Respekt haben vor einem Charlottenburger, der noch nie in Ost-Berlin war?
Und weil es so schön ist, setz ich noch einen drauf: Wir Zugezogenen sind die echten Berliner. Schon immer gewesen. Ohne uns wärt ihr noch immer ein unbedeutendes Kaff an der Spree, so spannend und weltoffen wie Königs Wusterhausen.
Ich meine, nichts gegen Königs Wusterhausen.