Lieblingsort auf den zweiten Blick: Warschauer Straße

Die Nacht kratzt und beißt, es ist laut, Grasgeruch liegt in der Luft. Körper pressen sich an Körpern über den Bürgersteig, die Masse gleitet, taumelt, pöbelt sich ihren Weg. Dicke Plakatschichten umarmen die Säulen der Straßenlaternen, auf dem Boden lehnt sich ein Kaugummifleck an den nächsten. Es gilt Bierflaschen, Scherben und Blicken auszuweichen. Nein, ich will keine Drogen kaufen und für euren Jungesellenabschied fragt jemand anderes. Die Nacht zeichnet sich am Himmel ab, richtig dunkel will es hier trotzdem nicht werden. Die Warschauer Straße schläft nicht. Sie wacht gerade erst auf.

Wenn ich abends auf der Warschauer Brücke stehe, dort mit dem Rad vorbeifahre, wissen meine Augen gar nicht, wohin sie gucken sollen. Zu viele Eindrücke auf einmal. Man könnte aus jedem gesehenen Augenblick eine Geschichte spannen. Jede einzelne Person, die dort entlangläuft, hält ihre eigenen Gedanken umklammert – manche davon sind deutsch, andere türkisch, manche indisch, viele englisch.

Die Warschauer Straße schläft nicht. Sie wacht gerade erst auf.

Touristen mit den Abdrücken von Kameragurten am Hals ziehen vorbei an mit Glitzer bestäubten Jugendlichen, Grüppchen stehen orientierungslos herum, die Punks sitzen daneben und wollen eine kleine Spende. Pärchen verschränken ihre Hände ineinander, Liebe und Alkohol mischen sich zwischen den Atemzügen. Kotze krustet in der Ecke.

Vor dem Fotoautomaten bildet sich gerade wieder eine Schlange, aus der kleinen Fressmeile – Döner, Böreks, Pommes – auf der Abzweigung zur S-Bahn dröhnen bassige Klänge. Die Straßenmusiker am Eingang zur U-Bahn-Station spielen ihren eigenen Soundtrack zum Großstadtleben und eine Schulklasse hört zu. Radfahrer erklingeln sich ihren Weg.

Friedrichshain rückt Richtung Kreuzberg vor, die U1 trägt die Menschen in die Ferne. Von der anderen Spreeseite strömen die Massen in den Simon-Dach-Kiez, um lässig in einer der kommerziellen Bars einen Cocktail zu schlürfen. Ja, schlürfen.

Die Warschauer Straße bildet den Knotenpunkt des Nachtlebens, eine Art Panamakanal für Partygäste. Willkommen auf dem Ballermann Berlins. Dieses ständige Treiben macht müde. Selbst im Winter gibt es hier kaum einen Abend, der so etwas wie Ruhe ausstrahlt. Der Kampf durchs Getümmel erschwert jeden entspannten Spaziergang zur Spree.

Berlin hält hier nicht still, aber einiges aus.

Die Atmosphäre auf der Warschauer Brücke hält etwas bereit, dass man sonst so in Berlin kaum findet. Erwartung, Vorfreude, eine gute Grundstimmung. Wer hier lang läuft, hat etwas vor. Ambitionen. Und sei es nur, das schönste Mädchen im Club zu küssen, fluchen auf Deutsch zu lernen, auch den letzten Pfeffi mit Freude zu trinken oder einfach einmal in der Masse unterzutauchen.

Und wenn dann noch die Sonne hinter dem Fernsehturm untergeht, könnte dieser Berliner Ort nicht schöner sein.


Fotos: © Charlott Tornow

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