Sonntag, 22.09. Wahlvergnügen – Ein Gastkommentar von Jan Hendrik Becker
Ist die Wahl schon vorbei? Ich sitze hier mit geschlossenen Augen und Ohrenschutz vor dem Fernseher und warte, dass mir jemand auf die Schulter klopft und sagt: "Kannst wieder hingucken. Alles überstanden."
Mein Name ist Jan. Ich habe Wahlfieber. Irgendwo zwischen Berichterstattung und TV-Duell muss mich diese Krankheit erwischt haben. Dabei sah es lange so aus, als wäre ich gegen Wahl 2013 komplett immun.
Am Anfang waren Mutti und Pannen-Peer:
Auf der einen Seite Mutti und die Mutti-Partei, auf der anderen Seite ein Kandidat, der erst keine Zeit oder Lust hatte, sich oder seine Partei auf die Kandidatur vorzubereiten (Honorare für Reden? Was für eine Überraschung!), dann mochte er keinen billigen Pinot Grigio für unter 5 Euro (voll sympathisch, wenn man unsympathische Leute mag), dann schien er seine geforderte Beinfreiheit hauptsächlich dazu zu nutzen, andere in den Schritt zu treten. Nett. Peer machte Pannen, Mutti machte nix. Und das soll Wahlkampf sein?
Am siebten Tag erfand Gott das TV-Duell:
In der Zwischenzeit fingen wir an zu drehen: Für "Eine Stimme 2013" wollten wir von Künstlern wissen, welche Themen Sie in diesem Wahlkampf interessieren. Keinen Wahlaufruf im Sinne von: "Geht! Zur! Wahl! Sonst! Deutschland! Zu! Ende!" sondern kurze Gespräche über Politik und das, was dort fehlt. Künstler Jonathan Meese erklärte mir an einem Samstagmorgen in seinem Atelier im Prenzlauer Berg: "Ich weise Politik von mir!" Und erklärte, warum er Politik für überkommen hält: Alles Ideologie. "Man kann doch wohl noch ohne Ideologie eine Milch kaufen!". Ich geb ja zu: So aufgeschrieben hört sich das so mittelspannend an, im Gespräch fand ich das durchaus überzeugend. Mich packte das Gespräch an einem interessanten Punkt: Nicht zur Wahl gehen hatte ich bis dahin immer als irgendwie doof empfunden. So bewusst formuliert und gepaart mit dem allgemeinem angenervt sein über die mangelnden thematischen Alternativen, kann ich seinen Standpunkt ziemlich gut nachvollziehen, immerhin ist es eine bewusste Entscheidung.
Der Wahlkrampf ging weiter, die ersten großen Plakate hingen an den Straßen: Mutti (Wie war nochmal der Slogan?), die SPD ("Das Wir gewinnt" - von einer Zeitarbeitsfirma, ihr Amateure!), die anderen ("Du!" / "1050 Euro und Flaschen sammeln!" Marius Müller Westernhagen: Freiheit!"). In unserem Redaktionsteam bereiteten wir in der Zwischenzeit unsere Sendung "netzrauschen" für phoenix vor. Für netzrauschen konfrontieren wir Politiker mit dem Wahlkampf im Netz, schauen, wie sie und ihre Partei sich im Netz präsentieren - und was das mit der Realität zu tun hat. Unser Vizekanzler kam in unsere Küche, trug ein körperbetontes Hemd und betonte außerdem, dass in Sachen Netz-Spionage noch nichts bewiesen sei, daher alles nicht so schlimm. Die SPD-Generalsekretärin sah das ganz anders, die CSU auch.
Oft ein wenig versteckt in den Partei-Programmen und Lebensläufen der Gäste, verborgen unter einem Haufen Floskeln und ´Sich-nicht-zu-weit-aus-dem-Fenster-lehnen-wollen`, ließ sich dann doch ziemlich oft etwas fast verloren geglaubtes finden: Eine Idee davon, wie wir in Zukunft hier miteinander leben wollen. Keine Angst, das wird jetzt keine "und dann fand ich meinen Glauben an die Politik wieder!"-Geschichte, aber: Während bei einer Karton-Fabrik immer Kartons den Grundstock des Geschäfts bilden, sind es bei der Poltik manchmal doch Überzeugungen. (Man kann ja auch von sich selbst überzeugt sein.) Auch in unser Politik-Küche wurde das immer deutlicher: Dorothee Bär von der CSU verteidigte das Betreuungsgeld, Rapper Weekend, der Sozialarbeiter ist, sagte uns und ihr: "Das ist total bescheuert!" Endlich! Streit um Themen!
Ronald Pofalla beendete erst die Spähaffäre und dann Dinge, zwei Wochen später beendete dann das TV-Duell für mich den Wahlkrampf. Auch wenn das Duell selbst in weiten Teilen einem Unfall ähnelte, also einem von zwei Straßenbahnen beim Rangieren, bei dem niemand verletzt wird: Die Unterschiede wurden sichtbar. Überhaupt: Die Wahl wurde sichtbar. Endlich.
Und ich sah, dass die Wahl spannend war:
Und jetzt? Die Platzpatronen im TV-Duell sind verschossen, der Schmutz der finalen Schlammschlachten, der klebt noch an manchen Zeitungen und Politikerschuhen. "Es wird richtig knapp" - und "Nichts ist entschieden!", das sind im Moment die Auskünfte, die wir von den Politik- und Zahlen-Gurus hören. Ob es am Ende wirklich so knapp wird? Keine Ahnung. Aber jeder, der behauptet, er wüsste genau, wer am Ende gewinnt und wie es am Montag weitergeht – dem würde ich misstrauen.
Meine "Ich tue mich schwer"-Stimmung ist nicht verschwunden. Deshalb wird das hier auch kein "Ihr müsst zur Wahl gehen!" - Aufruf. Nicht wählen als bewusste Entscheidung - kann man machen, klar. Aber gerade weil es so knapp wird, lohnt es sich, nachzudenken: Gut 300 und ein paar Stimmen haben in Niedersachsen darüber entschieden, wer das Land regiert. Und wie es dort weitergeht. Auch bei der Bundestagswahl kann (und wird, nach den letzten Zahlen) es richtig knapp werden. Und es geht um mehr als Peers Finger und Angelas Raute: Wer soll wie viel Steuern zahlen? Wer wo mindestens wie viel verdienen? Wie geht es in Europa weiter - und wer darf in Zukunft wen heiraten (Jeder! Jeden! Hallo, 2013!)?
Jeder von uns hat eine Stimme. Jeder von uns kann diese dazu nutzen, zu sagen, wie er leben möchte. Wegen Kater am Sonntag nicht zu wählen, finde ich doof. Und jetzt: Hoch die Tassen. Es ist Wochenende!
Tippt mir jemand auf die Schulter, wenn es vorbei ist, und ich die Augen wieder aufmachen kann? Danke.
Euer Jan