Konzertrückblick Wintersleep
Cedric Wrieden hat gestern Freikarten für Wintersleep im Lido gewonnen und da haben wir ihn natürlich gezwungen etwas darüber zu schreiben. Das ist ihm ausserordentlich gut gelunden. Danke Cedric!
Wer bei diesen Temperaturen schon von Winterschlaf redet, erntet wohl eher Missgunst bei seinen Mitmenschen. Es sei denn man war gestern Abend im Lido, wo man unter seines Gleichen gemeinsam Wintersleep sehen konnte.
Es war für mich schon aufregend, da ich diese Band für ihre Vielfältigkeit bewundere. Jedes Album hat seinen eigenen Sound und auch ein einzelner Song dreht sich bei Wintersleep gerne einmal um 180 Grad. Meine Erwartungen waren also hoch. Als ich im Kreuzberger Lido ankam deutete jedoch alles darauf hin, dass es ein schöner Abend werden würde. Sogar die „Warm-Up“-Musik passte und schaffte im alten Kinosaal das richtige Flair.
Den Anfang machte dann pünktlich um 21 Uhr eine junge Band aus Norwegen. The Megaphonic Thrift sind drei bärtige Männer und eine schmale Dame hinter einem riesig wirkenden Rickenbacker-Bass. Beeindruckend waren in erster Linie die Verrenkungskünste des Sängers Richard Myklebust. Trotz irrer Biegungen verlor er nicht die Kontrolle über seine Gitarre. Auffällig beim Auftritts von The Megaphonic Thrift war die konstante Steigerung des Härte- und Lautstärkegrades. Die Folge war, dass das Finale in einer Geräuschkulisse aus Rückkopplungen und Geschrammel ausartete, das mich zeitweise an The Joy Formidable erinnerte, die ich im Februar als Support für The Temper Trap gesehen habe. Leider freute sich das Auge wohl mehr als das leicht strapazierte Trommelfell. Ganz plötzlich war es vorbei. Ohne „Auf Wiedersehen“. Alles im allem aber nicht das Schlechteste, was ich bisher als Vorband erlebt habe.
Kurz nach 22 Uhr erklangen dann die ersten Töne von „Drunk On Aluminium“, dem Opener des dritten Albums von Wintesleep, gefolgt von „Archeologists“, ebenfalls von „Welcome To The Night Sky“. Das Publikum machte währenddessen noch einen schläfrigen Eindruck. Die Band schien sich auch zu fragen, ob alle hier richtig seien, und stellten sich erst einmal vor: „Hallo. Wie geht’s? We are Wintersleep and we have some songs“. Somit war das geklärt. Dennoch dauerte es bis zur fünften Nummer, dem schönen „Dead Letter And The Infinite Yes“, bis das Publikum aus dem scheinbaren Winterschlaf erwachte. Als dann das fröhliche „Weighty Ghost“ folgte, das 2008 meine erste Begegnung mit der Band war, schienen alle endlich angekommen zu sein.
Das dritte Album dominierte den Gig auch weiterhin, angereichert durch ein paar Songs vom aktuellen „New Inheritors“. Ich muss zugeben, dass mir die neue Scheibe ein wenig zu glatt ist. Mir fehlen die Wintersleep-typischen Kanten und Breaks in den Songs. Seit ich aber gestern einiges vom neuen Material live gesehen habe, fange ich an, das Album zu schätzen. Denn genau diese Kanten und irren Tempowechsel, die ich an dieser Band mag, gab es im Lido zu Hauf: Etwa improvisierte und neu eingefügte Stellen in „Murderer“ oder ein kurzer Solo-Part von Sänger Paul Murphy zu Beginn von „Laser Beams“, bevor Stück für Stück die Band herum einstieg. Durchgehend faszinierte mich der glasklare Sound, der gestern im Lido zu hören war, der die Instrumentierung fast albumreif auf der Bühne wiedergab.
Absolutes Highlight war der letzte Song vor der Zugabenpause, eine ausgedehnte Version von „Miasmal Smoke And The Yellow Bellied Freaks“. Zum Großteil instrumental baute es sich bis ins Bombastische auf, flachte auf ein Minimum ab und beschleunigte kurz darauf wieder von Null auf Hundert. Wahnsinn! Besonders Drummer Loel Campbell versetzte mich immer wieder durch Wirbel und kleine Schlagzeuger-Tricks ins Staunen. Animal von der Muppet-Show lässt grüßen!
Sehr sympathisch waren die deutschen Kommentare von Paul Murphy. Als sich dann zur Zugabe ein kanadischer Fan das länger nicht geprobte „Lipstick“ wünschen durfte, bedeutete dies einen dicken Pluspunkt vom Publikum und eine Herausforderung für die Band. „It is a challenge“, sagte Paul, doch haben die Jungs sie bestanden. Das letzte Lied, „Nerves Normal, Breath Normal“ war nach anderthalb Stunden ausschweifenden Melodien und Rythmen ein genial gelungenes Ende, was eigentlich keine Wünsche offen ließ. Aber einmal möchte ich an dieser Stelle doch meckern: „Orca“ hätte ich gerne noch gehört. Aber letztendlich ist es nicht so schlimm. Die Jungs versprachen bald wieder zu kommen, Berlin sei ja auch ein nettes Städtchen und auch ich habe für mich beschlossen, dass es nicht das letzte Mal war, dass ich mir Wintersleep angesehen habe.
by Cedric Wrieden
Setlist:
- Drunk On Aluminium
- Archeologists
- Black Camera
- New Inheritors
- Dead Letter And The Infinite Yes
- Weighty Ghost
- Murderer
- Search Party
- Experience The Jewel
- Encyclopedia
- Baltic
- Laser Beams
- Miasmal Smoke And The Yellow Bellied Freaks
Zugaben:
- Oblivion
- Lipstick
- Nerves Normal, Breath Normal
Pierre Türkowsky