Lieblingsort auf den zweiten Blick: die Flaktürme auf dem Humboldthain

© Charlott Tornow

163 Stufen später stehe ich hier auf dem ehemaligen Flakturm im Humboldthain. Ich gehe natürlich die Treppen, denn ich bin von Natur aus ungeduldig, und die spiralförmigen Wege hinauf würden mir viel zu lange dauern. Glasscherben knirschen unter meinen Schuhen mit nicht ganz so dicker Sohle und ich habe die latente Angst, gleich könnte sich etwas schmerzend in meine Füße bohren. Ein bisschen aufregend ist das, aber auch irgendwie Alltag im Wedding.

Mein Blick schweift in die Ferne. Das Panorama ist nicht so schick. Kein Fernsehturm, kein Sonnenuntergang, kein malerisches Landschaftsbild. Ich sehe ein endlos-erscheinendes grau-orangenes Häusermeer, hin und wieder durchbrochen von grünen Baumkronen. Das dröhnende Surren der Stadt hört man auch hier oben und irgendwie ist klar, das man dem niemals entkommen kann. Der Gesundbrunnen erstrahlt unter monotonem Glanz. Nur der Himmel ist noch grauer. Beklommenheit steigt kurz in mir auf, drückt mir auf die Kehle und ich habe Sehnsucht nach Stille und Leere.

Humboldthain Treppen

Damals, als mir vor fast 7 Jahren klar war, dass ich meine Heimatstadt verlassen werde, hab ich noch vermutet, dass 'Zuhause" irgendwo da draußen ist. In Berlin wollte ich es finden, denn da wo ich herkomme, passte ich nicht so recht hin. Eigentlich wollte ich, wie so viele andere auch, in dem bunten Getümmel aus Liebe, Dreck und Lautstärke noch ganz viel mehr finden und so zog ich also direkt vom beschaulichen Köln-Delbrück an eine Hauptstraße in den Berliner Wedding, wo man zu der Zeit bei den niedrigen Mietpreisen fast noch ein schlechtes Gewissen hatte.

Direkt in der Mitte Berlins war mein "Home Sweet Home". Allerdings war der Wedding anders als das, was ich von der Touristen-Mitte kannte und erwartete. Einflugschneise des Flughafen Tegel, ab 4 Uhr morgens Anlieferungslärm der Billigmöbelkette und des riesigen Supermarktes, überall Müll und Hundescheiße auf den Straßen, ein monatlicher Polizeibesuch wegen Überfällen in der Nachbarschaft, nächtliches Gebrüll von den Obdachlosen im Hinterhof, zusammengeschlagene Flüchtlinge auf dem Dachboden über mir. Ich war also auf meiner Suche nach einem Zuhause direkt auf dem Vorhof zur Hölle gelandet. Zumindest gefühlt.

Man trifft im Humboldthain Berliner, die alle ein bisschen Sehnsucht nach Stille und Leere haben

Mein erstes Jahr in Berlin verbrachte ich mit "zu fuß gehen". War das zeitlich möglich, spazierte ich überall dort hin, wo ich eben hin musste. Unterwegs begegnete mir die Geschichte der Stadt, die Gesichter der Stadt und eine ganze Menge Lebensgefühl, welches man zwar auch beim U8 fahren erlebt, aber dann nicht mit so viel Tageslicht. Der Humboldthain lag also auf der Wegstrecke zu meiner damaligen Arbeitsstelle in mitten des städtischen Irrsinns. Man trifft hier auf dem 29 Hektar großen Gebiet Hunde mit Besitzern, Jogger, Kletterer, Kinder mit Anhang, Grillende, Trinkende, Liebende, Tanzende, Pöbelnde, jugendliche Schulschwänzer, müde Rentner, schimpfende kroatische Boules-Spieler, leicht Verrückte, die eigenartige Dinge tun, Menschen mit und ohne Zuhause. Berliner, die alle ein bisschen Sehnsucht nach Stille und Leere haben. So wie ich.

Ein Gefängnis aus kaltem Stein mit Graffiti & beißendem Uringeruch

Humboldthain-Gitter

Wenn man dann alle Herumtreibenden im Park passiert hat und der umzäunte Spielplatz hinter einem liegt, steht dort ein steiler, aus Trümmern des 2. Weltkrieges aufgetürmter Berg, den das Bezirksamt Wedding Anfang der 50er Jahre, etwas unmilitärisch klingender, Humboldthöhe nannte. Unmilitärischer sieht der übriggebliebene Flakturm trotzdem nicht aus. Die Trümmerbahn schleppte schon Ende der 40er Jahre Reste der gesprengten, südlichen Flaktürme und auch sonstige Überbleibsel von Häuserruinen an. Das Ganze wurde an beiden Enden des Parks noch mit Erde aufgefüllt, so dass Bunker, Bau- und Industrieschutt nicht mehr zu sehen waren.

Heute lässt sich von diesem Müllendlager nichts mehr erahnen, aber das dumpfe, schwere Gefühl dieser traurigen Zeit Deutschlands klemmt auch hier noch in den Ästen, die die Höhe empor klimmen. Ich fühl mich in den meterhohen Stahlabsperrungen, welche die Aussichtsplattform umzäunen, eingesperrt. Ein Gefängnis aus kaltem Stein mit Graffitis und beissendem Uringeruch. Dreht man sich kurz um zur Parkseite, könnte man das hier für ein grünes Paradies halten.

Das dumpfe, schwere Gefühl dieser traurigen Zeit Deutschlands klemmt auch hier noch in den Ästen

Nichtsdestotrotz ist das hier die Zentrale eines ganz besonderen Gefühls in meinem Herzen. Der Turm ist sowas wie ein Zufluchtsort für mich geworden. Immer wenn ich mich kurz verloren fühle zwischen all den Häusern, Menschen und öffentlichen Verkehrsmitteln, weiß ich, dass ich dort oben das Berliner Chaos überblicken kann und ich in dem "Gefängnis" auch irgendwie von dem Wust auf den Straßen geschützt werde. Ich habe hier Dinge übers Leben gelernt, inspirierende Menschen getroffen, im Winter gerodelt, im Herbst fantastische Spaziergänge erlebt, habe den ersten Geburtstag meines Sohnes unter den Bäumen gefeiert und hoch oben auf dem Turm wild rumgeknutscht. Ich hab hier geweint und auch gelacht. Und sogar auch schon die Polizei gerufen. Berlin, eh.

Humboldthain Aufsicht

Was ich in Berlin schlussendlich gefunden habe? Das Zuhause in mir selbst und einen Ort, der mir zeigt, dass Raum und Zeit gar nicht so beständig ist; dass Schön und Hässlich nur um Haaresbreite auseinander stehen; dass das Leben in seiner Vielfalt miteinander sein kann; dass es im Grau, Laut und Hektisch auch ein Grün, Leise und Entspannt gibt; dass man immer so sein kann, wie man eben gerade ist und dass es stimmt: Man findet immer jemanden, der noch verrückter ist als man selbst.

Man findet immer jemanden, der noch verrückter ist als man selbst.


Beim letzten Mal hat uns Isis von ihrer Liebe zu Rixdorf berichtet.

Fotos: © Charlott Tornow

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