Berlingeschehen - Was passiert, wenn man versucht, das Jesuskind auf dem Weihnachtsmarkt zu klauen

Ich treffe Sophie auf dem Spandauer Weihnachtsmarkt. Meine einjährige Tochter, die duldsam in ihrem Wagen sitzt, stößt einen schrillen Freudenschrei aus.
„Wow, ist die groß geworden. Kann sie schon laufen?“
„Nein“, sag ich. „Aber das kann ich ja auch nicht jeden Tag.“
„Hast du Lust auf Glühwein?“ – „Also gut.“

Es dauert eine Weile, bis wir einen entsprechenden Stand finden. Die Betreiber haben sich mit der Weihnachtsdeko viel Mühe gegeben. An jeder Bude hängt ein uriges Holzschild, das in verschnörkelter Schreibschrift von den feilgebotenen Waren kündet: Smartphone-Zubehör, Textilien aus Bangladesch, historische Uniformhüte.
„Zwei Glühwein“, sagt Sophie zu einem mürrischen Burschen. Er knallt die Tassen aufs Holz, als hätten wir ihn beleidigt. „Neun fünfzig!“

„Ist es nicht schön hier?“, frag ich.
„Findest du nicht?“ – „Doch, doch.“
Ich nippe am lauwarmen Wein. Beiß die Zähne zusammen. Krame dann eine Flasche Rum aus dem Kinderwagen hervor und verdünne die Brühe ein wenig.
„Muss du eigentlich immer Schnaps trinken?“ Sophie hat diese Falte zwischen den Augen.
„Tut mir leid“, sag ich.„Aber ohne ertrag ich es nicht, mit der S-Bahn zu fahren.“
„Du hast jetzt ein Kind!“
„Ich weiß. Schau mal: Zwei Bier bitte!“
Meine Tochter hebt zwei Finger und strahlt übers ganze Gesicht.
„Ich find das nicht lustig.“
„Warum?“, frag ich. „Damit kann sie sich auf der ganzen Welt verständigen.“
Sophie schweigt, bis wir die lebensgroße Krippe erreichen. Sie ist mit Flatterband abgesperrt. Handzettel informieren darüber, was hier am Vorabend passiert ist.

„Das gibt’s doch nicht“, sagt Sophie lesend. „Da wollte jemand das Jesuskind klauen.“
Mir ist mulmig zumute.
„Hat dem armen Kind den Arm abgerissen. Aber dann ist er erwischt worden.“
„Ach so?“
„Ja, steht hier. Die Täter müssen bei ihrem Werk unterbrochen worden sein. Lediglich das Ärmchen konnten sie mitnehmen. Wer macht denn sowas?“
Wieder greife ich in den Kinderwagen. Schuldbewusst diesmal.
„Das-...“, keucht Sophie. „Ist das... Das ist ja wohl nicht?“
„Doch, ja. Ich fürchte das ist der Arm vom Jesuskind.“
„Woher hast du den?“
„Naja... War halt ’ne wilde Nacht.“
„Und du bist dabei erwischt worden?“
„Ach, von wegen erwischt. Das Kind war nur festgenagelt. Ja, das nenn ich mal barbarisch! Mit’nem Zimmermannsnagel durch den Bauch an die Wiege genagelt. So als Vorgeschmack, oder was?“
„Aber warum, um Gottes Willen, wolltest du das Jesuskind stehlen?“
„Frag mich was Leichteres. Gestern Nacht kam’s mir logisch vor.“

Sophie sieht fassungslos aus. Meine Tochter lässt wieder ein enthusiastisches Quieken vernehmen. „Wolltest du dich deswegen hier treffen? Um den Arm zurück zu bringen?“
„Natürlich. Oder glaubst du, ich fahr freiwillig nach Spandau?“
„Du wirst niemals erwachsen, oder?“
Ich lasse die Frage im Raum stehen. Als niemand der Umstehenden schaut, werfe ich den Arm in die Krippe zurück. Er landet unter dem Ochsen.
„Vielleicht wolltest du den kleinen Jesus auch nur befreien.“
„Vielleicht“, sag ich und trinke noch einen Schluck Glühwein. „Zumindest klingt das plausibel.“

 


Beim letzten Mal hat Clint über das Rauchen, schließende Kneipen und besorgte Mütter geschrieben.

Titelbilder: © via cartman.tv

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