Keine Ahnung, aber hauptsache 'ne Meinung: Es wird Zeit für ehrliche Unwissenheit

© Emily Morter | Unsplash

Meinungen scheinen absolut im Trend zu liegen: Jede*r hat eine, jede*r will eine, jede*r redet über die eigene. Nicht so wichtig, ob sie mit Qualitätssiegel daherkommt oder ein billiger Abklatsch mit niedrigen Produktionskosten ist – wichtig ist nur, dass man sie hat, die Meinung.

Viel zu oft kommt es mir so vor, dass unsere Gesellschaft genau so mit dem Prinzip Meinung umgeht. Dabei ist es doch eigentlich so: Zu manchen Dingen kann man easy eine eigene Meinung aufbauen – zum Beispiel: Finde ich meinen neuen Haarschnitt jetzt kacke oder nicht? Werden die Themen komplexer, sollte man sich für eine Meinung doch erstmal eingehend informieren – finde ich die Corona-Maßnahmen gerade berechtigt? Und bei wieder anderen Themen erkennen die meisten von uns früher oder später, dass unser Hirn wohl zu begrenzt ist, um jemals eine fundierte Meinung haben zu können. Ich zumindest kann euch nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Dimensionen wir noch nicht entdeckt haben. Diese Differenzierung von Meinung und Ahnung scheint aber nicht im Trend zu liegen.

Einfach mal keine Ahnung haben

Wenn man sich das öffentliche Gefasel anhört, zu viele Facebook-Kommentare durchliest oder draußen an einem Stammtischparolen schwingenden Zeitgenossen vorbeikommt, drängt sich eher dieser Gedanke auf: Wie komplex die Lage ist, ist egal – hauptsache wir haben so schnell wie möglich eine Meinung, die wir raushauen können. Schließlich haben wir uns ja super schnell auf Instagram informiert und wissen jetzt, wie die Welt läuft.

Auch wenn diese Rhetorik schnell nach Verschwörungstheoretiker*in klingt, sind es nicht nur die, die unfundierte Meinungen hinausposaunen. Auch unter "ganz normalen" Menschen schwindet zunehmend die Möglichkeit, einfach mal zu sagen "Da hab' ich keine Ahnung von" oder "Da müsste ich mich jetzt erstmal genauer informieren, um mir eine Meinung zu bilden". Und genau da liegt – für mich – das Problem. 

Wie zum Beispiel in den letzten Wochen, wo doch, wenn wir mal ehrlich sind, niemand so richtig wusste, was passieren wird oder was gerade richtig und was falsch ist. Dennoch: Jede*r hatte irgendeine Meinung.

Vielleicht brauchen wir als Menschen schnelle und einfache Meinungen, weil Unwissenheit sich auch immer nach Unsicherheit anfühlt. Und weil wir uns besser fühlen, wenn wir verstehen, was um uns herum passiert. Wie zum Beispiel in den letzten Wochen, wo doch, wenn wir mal ehrlich sind, niemand so richtig wusste, was passieren wird oder was gerade richtig und was falsch ist. Dennoch: Jede*r hatte irgendeine Meinung zu Corona und Co. Vielleicht hat es auch mit sozialer Erwünschtheit zu tun und der Tatsache, dass "Ich hab keine Ahnung davon" auch immer ein bisschen nach Desinteresse klingt. Aber muss es das? 

Natürlich können wir nicht alle zu jedem Thema allumfassend informiert sein. Und auch wenn man gerade den zehnten Artikel auf der fünften Plattform zu ein und demselben Thema liest, heißt das noch lange nicht, dass man nun Profi auf dem Gebiet ist. Das ist aber auch ok. Mehr noch: Das sollten wir auch offen sagen können.

Rezo und die Presse

Der Überschuss an Meinung bei einem Mangel an Ahnung nervt mich schon eine ganze Weile – das Video von YouTuber Rezo hat meine Aufmerksamkeit vor einigen Monaten nochmal gezielt darauf gelenkt. Rezos Video bemängelte aber nicht nur vorschnelle Meinungen und Uninformiertheit, sondern richtete sich direkt an Teile der Presse, die zu diesem Phänomen der ahnungslosen Meinungsbildung beigetragen haben. Es geht um bewusste Falschmeldungen, Photoshop-Fakes, um Clickbait und Verschwörungstheorien und um die Verantwortung der seriösen Presse, sich zu ihrem eigenen Wohl stärker von unseriösen Journalist*innen abzugrenzen.

Rezo appelliert zu Recht an die Presse und ihre Verantwortung gegenüber Wahrheit und Qualitätsjournalismus – ich appelliere an uns als Gesellschaft.

Was die Journalist*innen und Techniken, die Rezo anprangert, gemein haben? Sie geben uns eine Meinung to go. Klar, einfach, ohne Unsicherheiten und ohne die müßige Verantwortung, sich tiefergehend informieren zu müssen. In Zeiten von kurzen Nachrichtenhäppchen und Story News auf Instagram spart man mit einfachen Meinungen jede Menge Zeit. Rezo appelliert deshalb zu Recht an die Presse und ihre Verantwortung gegenüber Wahrheit und Qualitätsjournalismus – ich appelliere an uns als Gesellschaft. Und an unser Verständnis von Bildung, Wissen und Meinung.

Das heißt nicht, dass ab sofort jeder einen Master in Politikwissenschaften braucht, um sich an einer Diskussion beteiligen zu können. Das wäre leider auch gar nicht drin. Schließlich ist es immer noch so, dass nicht alle die gleiche Bildung erfahren können und auch nicht alle gleich gut lernen, Informationen zu analysieren. Deshalb meine Bitte: Kann es einfach mal wieder okay sein, keine Ahnung zu haben?

Wir sollten uns informieren, lesen, uns austauschen, etwas über die Welt lernen. So viel und so gut wir können. Aber wir sollten auch wissen, dass wir von vielen Dingen einfach – noch – keine Ahnung haben. Und wenn wir zu einem Thema keine Ahnung haben, halten wir auch einfach mal die Klappe.

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