Tinder hat uns allen die Unschuld geraubt

© Hella Wittenberg

Meine erste Tinder-Erfahrung war nur ein kurzer virtueller Schlagabtausch. Doch wie in einem guten Roman waren darin bereits sämtliche Motive angelegt, die sich dann durch die ganze Geschichte ziehen. Es war mein erster Match, nennen wir die Frau Vicki. Nach ein paar krampfigen Versuchen, die Konversation möglichst originell zu eröffnen, entschied ich mich schlussendlich für entwaffnende Ehrlichkeit. Ich zitiere den Chatverlauf:

CLINT: „Hey Vicki, schön dich kennenzulernen. Bin ganz neu hier und schon ein bisschen irre vom Wischen. Hoffe, du hast einen guten Tag! Meinen hast du jedenfalls schon verschönert.“

VICKI (etwa vier Stunden später): „Oh, die Tinder-ist-so-doof-Masche. Hatte ich diese Woche noch nicht. Bist du wirklich AB? Oder machst du nur so? Fragen über Fragen. Ich halte einige zurück. Weiß noch nicht, wie hoch mein Stapel an Konversationskärtchen für dich ist. Muss jetzt mal aufstehen. Und du so?“

CLINT (bemüht fröhlich): „Ich sitze gerade am offenen Fenster und höre den Geräuschen von draußen zu. Eine Ringbahn, die Vögel, meine türkischen Nachbarn, die sich mal wieder die Köpfe einschlagen. Wedding 4 Life. Habe noch Schreibarbeit vor mir, aber bin guter Dinge. Und ja, tatsächlich auch Absoluter Beginner. Pass auf, dass du beim Aufstehen nicht den Konversationskartenstapel umstößt.“

VICKI (etwa vier Stunden später): „Heyho, let's go. Wahrscheinlich soll ich jetzt fragen, was du so schreibst. Lass mich raten. Romantische Gedichte? Deine Master-Arbeit? Ist man auch fleißig, wenn man auf Tinder chattet? Und hättest du mir auch von deinen gewalttätigen Nachbarn erzählt, wenn sie Deutsche wären?“

Ich musste eine Weile nachdenken, wie ich auf diese pfiffige Art, mir Sentimentalität und Rassismus zu unterstellen, reagieren soll. Vicki nahm mir die Last dann jedoch ab, indem sie den Match ohne einen weiteren Kommentar auflöste. Treffer, versenkt. Eigentlich hätte ich an dieser Stelle mit dem Experiment wieder aufhören können, denn ich hatte alles erlebt, was man bei Tinder erleben kann. Leider ahnte ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Wir sind gar nicht mehr in der Lage, andere Menschen kennenzulernen

Wer wissen will, was mir in circa sechs Wochen Dating widerfahren ist, kann das hier nachlesen. Unterm Strich eine sehr schöne und viele, viele nicht so schöne Erfahrungen. Ich habe dieses Kapitel längst abgehakt, lache auch gern darüber. Die Sache ist allerdings: Nur weil man aufhört, aktiv zu tindern, entrinnt man ja nicht den Mechanismen, die Tinder in Gang gesetzt hat. Und die bewirken, dass wir gar nicht mehr in der Lage sind, unbefangen andere Menschen kennenzulernen.

Nehmen wir Vicki. Natürlich verstehe ich, wenn Frauen bei diesen Chats am Anfang ein wenig Distanz wahren wollen. Eine liebe Freundin hat mir mal gezeigt, was Männer ihr bei Tinder alles so schreiben. Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Unsere Welt ist kontaminiert von den Umtrieben geschmackloser Rammler und das ist zum Kotzen. Aber wenn man deshalb das Ziel aus den Augen verliert, nämlich zu flirten, warum lässt man die Sache dann nicht gleich bleiben?

Ein Leben nach Ausschlusskriterien

Wie gesagt, das mit Vicki war nur ein unpersönlicher Chat. Aber ich habe seitdem schon mehrmals erlebt, dass Menschen sich genauso im echten Leben verhalten. Als würden sie nur noch in Ausschlusskriterien denken. Die Dates mit ihnen fühlen sich an wie Bewerbungsgespräche. Weil sie dankbar nach jeder Gelegenheit greifen, um das Gegenüber auszusieben.

Ich habe dieses Verhalten schon in einem anderen Rahmen beobachtet, als ich mich mit einem Kumpel über Literatur unterhielt. Als wir auf Hemingway zu sprechen kamen, meinte er: „Hat der nicht andauernd Tiere erschossen? Von so jemandem lese ich kein Buch.“ Bukowski fiel weg, weil angeblich frauenfeindlich. Celine und Hamsun haben mit den Nazis sympathisiert. Und so weiter. Auf die Art hat er einen Klassiker nach dem anderen aussortiert. Das ist natürlich auch ein Weg, um mit der immer stärker werdenden Reizüberflutung umzugehen.

Die Dates mit ihnen fühlen sich an wie Bewerbungsgespräche. Weil sie dankbar nach jeder Gelegenheit greifen, um das Gegenüber auszusieben.

Ich glaube, Menschen wie Vicki fahren beim Dating die gleiche Strategie. Sobald die kleinste Unregelmäßigkeit auftaucht: Swipe left. Schließlich haben sie dank Tinder noch fünfzig andere Möglichkeiten, die geprüft werden wollen. Genau das ist letzten Endes auch der Kern der Sache: diese Illusion der unbegrenzten Möglichkeiten.
Natürlich sind die Möglichkeiten unbegrenzt. Aber will man das wirklich wissen? Führt das nicht vielmehr dazu, dass man sich gar nicht mehr entscheiden kann? Weil man dauernd denkt, man würde was noch viel Tolleres verpassen? Tinder ist wie eine zu umfangreiche Speisekarte. Stressig, überfordernd und immer unbefriedigend.

Außerdem geht der Reiz des Ungewissen flöten. Wenn ich eine Frau an der Bar anspreche oder von ihr angesprochen werde, weiß keiner von beiden, was daraus entstehen wird. Tinder dagegen verrät einem immer schon von vornherein das Ende des Filmes.

Tinder ist wie eine zu umfangreiche Speisekarte. Stressig, überfordernd und immer unbefriedigend.

Ich weiß auch nicht, was man dagegen tun soll. Aber irgendwie müssen wir uns unsere Unschuld zurückerobern. Die Unschuld, unbedarft auszugehen, zu flirten, Sex oder einfach nur Spaß zu haben. Schluss mit dem abgeklärten Getue und Schluss damit, einen wesentlichen Teil der zwischenmenschlichen Begegnung an eine App auszulagern.

Ich bin übrigens gar nicht auf der Suche. Doch zum Beginn unserer Roaring Twenties dachte ich, es könnte nicht schaden, mal eine Lanze für mehr Sinnlichkeit und Lebensfreude zu brechen.

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