Ab welchem Alter sollte man einem Kind das Lügen beibringen?

© Benjamin Hiller

"Cool trotz Kind" ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint berichtet von seinem Alltag als alleinerziehender Vater. Die Eskapaden, die er und seine Tochter Wanda* erleben, stehen im Zeichen einer großen Sehnsucht, einer Utopie: Man kann auch mit Kind ein wildes und freies Leben führen.

Kinder und Narren sagen immer die Wahrheit. Und natürlich Betrunkene. Und was das für tolle Wahrheiten sind! Befreiungsschläge geradezu, erfolgreiche Ausbrüche aus dem Korsett gesellschaftlicher Konventionen. Wer hört es nicht gern, wenn einem die hackedichte Kollegin auf der Weihnachtsfeier mal so richtig die Meinung geigt? Da kommt Stimmung auf.

Wir lügen alle ununterbrochen

Es ist erstaunlich, was für einen hohen theoretischen Stellenwert die Wahrheit in unserer Gesellschaft noch immer hat. Wir lügen zwar alle ununterbrochen, in der Steuererklärung oder bei unseren lachhaften guten Vorsätzen. Wenn wir Biofleisch kaufen und glauben, das würde irgendwas besser machen. Oder auf Plastiktüten verzichten und trotzdem konsumieren wie die Geistesgestörten. Aber auf irgendeiner schrulligen Über-Ich-Ebene wissen wir natürlich, dass das nicht okay ist. Und projizieren unsere Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit deshalb auf unschuldige Kinder und Trunkenbolde.

Neulich waren meine Eltern zu Besuch in Berlin. Ich habe sie bei mir zu Hause einquartiert und sie sind wirklich die liebenswürdigsten und unkompliziertesten Wesen auf dem Erdenrund. Aber nach fünf Tagen unter einem Dach kriege ich einfach Lagerkoller. Vor allem, weil meine Tochter Wanda und ich normalerweise einen sehr geräuscharmen Alltag pflegen. Der ist bei vier Personen, die sich über ihre Befindlichkeiten austauschen wollen, nur schwer gegeben.

„Oma Rosi?“, hörte ich es dann eines Mittags aus der Küche. Ich lag gerade auf dem Sofa, um mein Nervenkostüm zu flicken. „Mein Papa hat gesagt, dass du immer so viel redest, und dass das anstrengend ist. Und es stimmt, du redest wirklich total viel.“

Da hing der Haussegen aber schief. Meine Mutter war verständlicherweise gekränkt. Mich hat es noch mehr in den Wahnsinn getrieben, weil ich die Situation zwar entschärfen wollte, mich aber im Recht fühlte. Mein Vater stand zwischen den Stühlen. Und auch Wanda hat gemerkt, dass ihr Statement irgendwie uncool war. Es lebe die Wahrheit.

Mein Papa hat gesagt, dass du immer so viel redest, und dass das anstrengend ist. Und es stimmt, du redest wirklich total viel.
Wanda

Fingerspitzengefühl ist auch eine Form der Lüge

Was soll man da tun? Dem Kind sagen, dass es den Schnabel halten soll? Es zur Diskretion auffordern? Ist Fingerspitzengefühl nicht auch eine Form der Lüge? Nein, nein, nein, natürlich kenne ich die Antwort auf diese Fragen: Ich als Vater muss einfach aufpassen, was ich in der Gegenwart meiner Tochter sage. Damit das arme Kind gar nicht erst in einen derartigen Gewissenskonflikt kommt. Aber wie lange muss ich das nun so handhaben? Für immer?

Eine andere Situation: Wanda ist fünf, ein ungünstiges Alter, was den Eintritt in diverse Vergnügungsstätten angeht. Zum Beispiel dürfen Kinder bis vier kostenlos in den Zoo. Ich will jetzt nicht über die Maßen nach unten treten, aber der Zoo ist schon eine dürftige Angelegenheit. Vor allem im Winter. Mit all diesen Baustellen. Ich finde, mit einer Erwachsenen-Jahreskarte habe ich meine Schuldigkeit getan. Da will ich nicht noch zusätzlich ein Kinder-Ticket lösen.

„Wie alt ist denn die Kleine?“, fragt die Kassiererin.

„Vier.“

„Aber Papa, ich bin doch jetzt fünf.“

„Nein, bist du nicht!“

Und dann gibt es das Gegenteil im Kino. Weil die „Freiwillige Selbstkontrolle“ das sechste Lebensjahr zu einer entscheidenden Zäsur im Leben eines Menschen erhoben hat. Und mein Kind mit fünf Jahren und acht Monaten eben trotzdem gern „König der Löwen“ schauen möchte. Ich muss sie also fortan dauernd instruieren, sich auf Nachfrage jünger oder älter zu machen. Ist das cool? Zerstöre ich damit ihre Unschuld?

Zerstört man die Unschuld eines Kindes, wenn man es in die kleinen Lügen des Alltags integriert?

Ich glaube nicht. Denn eine Sache vergisst man leicht bei einer allzu dogmatischen Betrachtung dieser Thematik. Mir ist das erst vor Kurzem klar geworden. Nachdem es in der Kita ein paar unschöne Tür-und-Angel-Gespräche gegeben hat, passe ich inzwischen auf wie ein Schießhund, was ich in Wandas Gegenwart von mir gebe. Und trotzdem kommt es immer noch zu seltsamen Missverständnissen, deren Ursache ich erstmal finden musste. Und die ist ganz klar:

Meine Tochter, überhaupt alle Kinder, lügen sowieso schon, dass sich die Balken biegen. Vollkommen schamlos erzählen sie irgendwelche Märchen, um sich kleine Vorteile zu verschaffen und die dämlichen Erwachsenen gegeneinander auszuspielen. Das kann man empörend finden. Da kommt wieder diese Über-Ich-Sache ins Spiel. Der moralische Zeigefinger, mit dem man in der nächsten Sekunde wieder den Abzug betätigt, um die Wahrheit zu morden.

Es gibt gute Lügen und böse Lügen. An der Kinokasse und gegenüber dem Finanzamt muss man nicht ehrlich sein. Das ist sogar kontraproduktiv. Bei anderen Sachen ist Aufrichtigkeit wiederum bitter nötig. Wo genau man die Grenze zieht, bleibt jedem selbst überlassen. Ich schätze, das ist dann das, was man Erziehung nennt.

Ich dagegen nehme meiner Tochter ihre ursprüngliche kriminelle Energie nicht übel. Vielmehr sehe ich es als meine Verantwortung, diese in vernünftige Bahnen zu lenken. Denn es gibt gute Lügen und böse Lügen. An der Kinokasse und gegenüber dem Finanzamt muss man nicht ehrlich sein. Das ist sogar kontraproduktiv. Bei anderen Sachen ist Aufrichtigkeit wiederum bitter nötig. Wo genau man die Grenze zieht, bleibt jedem selbst überlassen. Ich schätze, das ist dann das, was man Erziehung nennt.

* Der Name meiner Tochter wurde geändert.

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