Berliner*innen am Sonntag: Identitäten-Diskurs mit Joy Denalane

© Hella Wittenberg

Der Sonntag ist heilig! Wir haben uns gefragt, was waschechte, zugezogene oder ganz frisch gebackene Berliner*innen an diesem besten Tag der Woche eigentlich so tun? Lassen sie alle Viere gerade sein oder wird doch gearbeitet, was das Zeug hält? Sind sie „Tatort“-Menschen oder Netflix-Binger*innen, Museumsgänger*innen oder festgewachsen am Balkon? Brunchen sie mit Freund*innen oder trifft man sie allein im Wald beim Meditieren an? Wir haben bei unseren liebsten Berliner*innen nachgefragt.

Das sagt die Musikerin Joy Denalane über ihren Sonntag

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Ist der Sonntag ein besonderer Tag für dich?

Wenn ich zuhause bin und keine Arbeit an einem Album ansteht, auf jeden Fall. Dann nutze ich den freien Tag zum Runterkommen und auch für die gesamte Familie. Unser Haus ist offen für alle. Da kommen auch mal meine fünf Geschwister, deren Familien und Freunde vorbei und wir essen und erzählen lange zusammen. Zwar schaffen wir es nicht mehr so regelmäßig, aber ich versuche mir den Sonntag immer dafür frei zu halten.

Wie startest du in den Tag?

Ich gehe sehr früh laufen oder spazieren. Nichts ist schöner als ein unangebrochener Morgen! Wenn viele noch zuhause und die Straßen leer sind, die Stadt scheinbar noch schläft. Dann bekomme ich eine neue Perspektive auf alles.

Du scheinst mehr Morgen- als Nachtmensch zu sein.

Ja, ein Nachtmensch war ich noch nie. Von den Langausgehern war ich früher diejenige, die am ehesten wieder gegangen ist. Um vier Uhr war für mich jede Party erzählt. Alles, was kommen würde, absehbar. Vom Tag wollte ich nie zu viel verpassen. Mir kam es schon immer so vor, als wäre an einem neuen Tag einfach alles möglich. Man kann alles anders machen und das Blatt für sich komplett wenden. Dieses Gefühl am Morgen liebe ich. Das zelebriere ich auch mit einer Tasse Kaffee und einer Tasse Tee. Beides muss sein. Letztens hatte ich keinen Kaffee mehr und das war so dramatisch, dass ich den alten neu aufgegossen habe. Da habe ich mich gefragt, ob ich echt so ein Junkie bin. Der Kaffee hat sogar okay geschmeckt. (lacht)

Um vier Uhr war für mich jede Party erzählt. Alles, was kommen würde, absehbar.
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Was gehört noch zum idealen Morgen dazu?

Aus dem Fenster schauen und die Leute beobachten. Das ist wie „Lindenstraße“ gucken. Wir wohnen nämlich oben in einem Eckhaus und von einem Fenster hat man einen total guten Einblick in drei Straßen. Da weiß ich direkt, was los ist, in meiner Hood. Und das alles vor sieben Uhr! Ich mache gerne sonntags auch was für mich, bevor ich mich der Familie widme. Zum Beispiel auch mal ein Buch lesen. Unter der Woche denke ich oft, dass ich mir das nicht leisten kann, während andere im Büro sitzen und ihren Projekten nachgehen. Da kommt dann das schlechte Gewissen auf – aber niemals an einem Sonntag.

Entstehen bei dir Dinge aus der Entspannung oder Spannung heraus?

Vieles von dem, was wir als Kreative machen, basiert auf Konzentration. Die entsteht nicht, wenn man alle Fünfe gerade sein lässt. Das ist so eine weit verbreitete Vorstellung, dass man nur da sitzen muss und dann die Muse mit der großartigen Idee kommt. Dabei müssen wir viel an uns arbeiten, Neues ausprobieren...

Das ist wohl nichts, was man mal eben an einem Sonntag dazwischenschiebt.

Nein, an dem Tag geht es um das Zusammensein in der Familie. Vor allem beim Frühstück. Der Termin ist für Max und mich besonders wichtig. Unter der Woche schaffen wir es oft nicht, gemeinsam zu essen. Die Kinder sind unterwegs und wir sind im Studio. Aber wenigstens einmal in der Woche wollen wir einen ausgiebigen familiären Moment schaffen. Am Sonntag versuchen wir normale Familie zu spielen. (lacht) Beim Frühstücken diskutieren wir wirklich alles, was uns in der letzten Zeit beschäftigt hat. Gerade bei den tagesaktuellen Themen können Kontroversen entstehen. Eltern versus Kinder – da gibt es schon Reibereien. Aber es kann auch um ein Buch gehen, was man gerade gelesen hat. Erst neulich habe ich ein Buch von Philosophen über Identitäten gelesen und habe mich dann mit diesem Impuls und der Frage an den Tisch gesetzt: „Was haltet ihr eigentlich davon, wenn wir die Kategorisierungen auflösen?“

Das stelle ich mir sehr spannend vor.

Die Reaktion war eher so: „What? Ich wollte hier eigentlich entspannt mein Brötchen essen.“ Und klar, es kann auch anstrengend sein, wenn man gerade keinen Bock auf so etwas hat. Ein Gespräch ist keine Einbahnstraße. Meine Kinder meinten erst neulich zu mir: „Mama, bei dir ist alles immer so deep. Kannst du nicht ganz normal mit uns reden? Musst du alles immer hinterfragen?" Ich verstehe das schon. Aber sonntags ist nun mal die Zeit da, um zu hören, was die anderen denken und einen Diskurs in Gang zu bringen.

Ein Gespräch ist keine Einbahnstraße.
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Aber das füllt sicher nicht den ganzen Tag, oder?

Das reicht nur bis 13 oder 14 Uhr. Danach fällt bei uns immer der Satz: „Was ist jetzt der Plan?“ Unsere Kinder sind schon groß, 16 und 19 – sie haben ihre eigene Agenda. Aber Max und ich überlegen schon, wohin es für uns geht. Wir lieben es in den Untiefen vom Schlosspark Charlottenburg herumzulaufen. Oder wir starten von der Teufelsseestraße ausgehend einen Spaziergang. Am Ende der Straße, wenn man schon am Teufelsberg und Teufelssee vorbei ist, stößt man gleich auf drei Abzweigungen, die einen auf Wege bis zur Havel führen, bis zum Jagdschloss oder auch bis zum Schlachtensee. Das ist so toll, wenn man da ewig lang läuft und einem dabei keine einzige Person begegnet. Aber klar, immer packen wir das auch nicht. Ich netflixe dann auch mal ausgiebig.

Was schaust du gerade?

Ich schaue gerade „How to Get Away with Murder“. Was ist da eigentlich mit Annalise Keating los? Sie muss ja in jeder Folge dramatisch weinen. Irgendwann habe ich angefangen das zu fotografieren, weil ich es nicht fassen konnte. Wenn ich mal drin bin, binge ich die Folgen nur so weg. Bloß gut, dass ich kein Nachtmensch bin – so schlafe ich nach einer Weile dabei ein und klappe gerade noch so den Laptop runter. Wenigstens netflixe ich nur im Bett und nicht auf der Couch vor unserem großen Fernseher. Ich finde nichts schrecklicher als auf dem Sofa einzuschlafen. Das ist für mich der richtige Abgesang von allem.

Wir lieben es in den Untiefen vom Schlosspark Charlottenburg herumzulaufen.
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Du bist in Schönberg geboren und mit sechs Jahren nach Kreuzberg gezogen. Warum hast du dich nach deinem Auszug mit 16 für eine WG in Charlottenburg entschieden?

Vor dem Mauerfall war das der Dreh- und Angelpunkt der Stadt. Ich habe die Clubs und Cafés dort geliebt. Das hat mich geprägt. In Kreuzberg habe ich meine wirklich großartige Kindheit verbracht. Ich wuchs in einer Hochhaussiedlung auf und in unserem Block prallten etliche Lebensentwürfe aufeinander. Das war in den besten Momenten das Vorzeigemodell einer pluralistischen Gesellschaft. In anderen schlug einem die ganze Härte entgegen, die Kinder so aufbringen können. Rangeleien auf dem Schotterplatz waren nichts Besonderes. Mädchen gegen Jungs auch nicht. Das waren dann die Momente, in denen man sich entscheiden musste. Schlage ich zurück oder nicht. Nun war ich auch die kleine Schwester meiner zwei Brüder. Ich wusste mich schon zu wehren. (lacht) Charlottenburg habe ich dagegen früher als eine ruhigere, überschaubarere Umgebung wahrgenommen. Danach hatte ich Sehnsucht. Doch so moderat ist Charlottenburg nun auch nicht. Touristen und Hingezogene wollen den Bezirk gerne als absolut sicher verklären, aber trust me: Wer dort lebt, sieht wie unsicher es sein kann. Hier wird sich auch geprügelt und herumgebrüllt. Nachts verwandelt sich meine Straße auch in etwas anderes. Aber zum Glück bin ich ja kein Nachtmensch!

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