Vor welchen Problemen Familien in der häuslichen Isolation stehen & was Kinder jetzt brauchen

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Geschlossene Schulen, häusliche Quarantäne und Homeoffice – der Alltag auf engem Raum während der Corona-Pandemie stellt viele Familien derzeit vor große Herausforderungen. Ursula Horbach-Magerl ist Familientherapeutin, Heilpädagogin und Motopädagogin. Sie betreut und unterstützt Pflege- sowie Herkunftsfamilien. Vor welchen Herausforderungen und Problemen stehen Familien, die ohnehin schon sehr belastet sind, aktuell? Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die therapeutische Arbeit aus? Und was können Familien tun, um die Zeit in der häuslichen Isolation möglichst gut zu meistern? Ursula Horbach-Magerl erklärt, was bei Konflikten und Lagerkoller hilft, welche Bedürfnisse Kinder jetzt haben und wie lange Familien diesen Zustand eigentlich aushalten können.

Viele Expert*innen fürchten, dass die Corona-Krise und die damit verbundenen Maßnahmen jetzt vermehrt zu häuslicher Gewalt führen. Siehst du das auch so?

Ich sehe das auch so. Die Familien sind es nicht gewohnt – außer vielleicht in der Ferienzeit – jeden Tag so viel Zeit miteinander zu verbringen. Im Moment beraten wir aufgrund des Kontaktverbots zwar ausschließlich am Telefon, aber wir bekommen die Doppelbelastungen durch das Arbeiten von zu Hause aus und gleichzeitiger Kinderbetreuung natürlich trotzdem mit.

Inwiefern?

Wir bekommen von den Jugendämtern mehr Anfragen zur Aufnahme von Kindern wegen Kindeswohlgefährdung in Familien, die sowieso schon wenig belastbar und existenziell auch stärker gefährdet sind.

Das klingt alarmierend. Du sagtest, ihr kommuniziert momentan hauptsächlich über Telefon mit den Familien. Wie läuft die therapeutische Betreuung dann ab? Wie muss man sich das vorstellen?

Wir haben täglich Kontakt zu den Familien, per Videogespräch über Skype oder per Telefon. Es ist sehr wichtig, dass wir weiterhin direkt mit den Familien sprechen, um sie emotional zu unterstützen und die Chance haben, sofort auf Probleme oder Sorgen zu reagieren – noch bevor sich eine schwierige Situation zuspitzt. Ich selbst drehe gerade jeden Tag kleine Videos von meinen Spaziergängen und sende sie an die von uns betreuten Familien, die gerade unter einer enormen Doppelbelastung stehen.

Welche Konfliktpotentiale birgt so eine Isolations-Situation, wie wir sie gerade haben, für Familien?

Durch die permanente Nähe und die nicht vorhandene Distanz zueinander, können alte Konflikte und traumatische Erfahrungen hochkommen. Aber auch Alltägliches wie Hausarbeit, Hausaufgaben etc. führen zu häufigeren Auseinandersetzungen in den unterschiedlichsten Konstellationen. Zwischen Eltern und Kindern, auf Paarebene oder zwischen Geschwistern.

Das klingt nachvollziehbar. Wie können Familien sich denn präventiv gegen aufkeimende Konflikte oder den berüchtigten Lagerkoller wappnen?

Es ist jetzt wichtig, eine Tagesstruktur beizubehalten, beziehungsweise sich diese gemeinsam mit der Familie zu erarbeiten. Feste Pläne und Strukturen sind gerade in unsicheren Zeiten wichtig, damit für Kinder und Jugendliche berechenbarer wird, was geschieht. Das stärkt das Sicherheitsgefühl und damit auch die innerliche Entspannung.

Feste Pläne und Strukturen stärken das Sicherheitsgefühl und damit auch die innerliche Entspannung

Wie geht man so einen Plan oder eine Struktur an, wenn es das bisher nicht gab?

Es ist zum Beispiel sehr sinnvoll, die Kinder in einer Art Familienkonferenz miteinzubeziehen und dadurch sozusagen vorbeugende Strukturmaßnahmen zu schaffen. "Agieren" verhindert gestresstes oder unkontrolliertes "reagieren". Zudem hilft es, konkrete Auszeiten für jedes Familienmitglied zu schaffen, aber auch gemeinsame Zeiten mit allen zu planen. Es ist wichtig, dass nicht alles von Elternseite kontrolliert wird, sondern auch Freiräume beibehalten oder geschaffen werden. Belohnungen und kleine Highlights sind ebenso wichtig.

Kannst du uns erklären, was aus psychologischer Sicht passiert, wenn sich Familien auf engem Raum aufhalten müssen?

 Menschen entwickeln ganz unterschiedliche Verhaltensweisen. Wenn alles eher "Reaktion" ist, gerät der Mensch schnell in ein Gefühl von Unsicherheit. Dadurch entsteht Angst, die Überschaubarkeit fehlt und man nimmt automatisch eine Abwehrhaltung ein. Wenn aber Sicherheit durch Strukturen oder transparente Informationen vorhanden ist, mindert das Ängste und der Fokus kann auf das Zusammengehörigkeitsgefühl gerichtet werden. Alle brauchen das gute Gefühl, in solch einer Situation zu einer gut funktionierenden Gemeinschaft zu gehören. Kinder brauchen derzeit eine starke Stütze durch ihre Eltern, nur so entsteht Wohlbefinden und sie spüren, dass sie keine Angst haben müssen. Denn Angst überträgt sich schnell untereinander.

Wie wirkt sich das Kontaktverbot zu anderen Familienmitgliedern oder Freund*innen aus?

Wir sind soziale Wesen und leben vom Miteinander und sozialer Interaktion. Jetzt ist Kreativität gefragt. Da wir wunderbare digitale Möglichkeiten haben, sollten wir diese Medien nutzen, um uns anders zu vernetzen. Das erfordert natürlich Flexibilität und am Anfang stehen sicher auch einige Bemühungen. Aber es kann Eltern, Kinder und Jugendliche innerhalb der Familie auch wieder näher zusammenbringen. Wenn zum Beispiel der älteste Sohn erklärt, wie FaceTime oder ein WhatsApp-Call funktioniert.

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'Agieren' verhindert gestresstes oder unkontrolliertes 'reagieren'

Wie lange kann eine Familie das aushalten?

Wenn Familien es schaffen, Strukturen zu etablieren, von denen jede*r in der Familie profitieren kann, dann können wir so etwas viel länger aushalten, als man erst einmal glaubt. Es ist wichtig, dass wir lernen, uns zurückzunehmen. Rücksicht nehmen heißt ja vor allem, dass sich nicht alles gleich erfüllen wird. Das ist in der heutigen Erziehung ein bisschen in den Hintergrund getreten, da viele Eltern meinen, ihre Kinder permanent glücklich machen zu müssen.

Wie schwierig ist das alles für Kinder, die womöglich noch nicht verstehen, warum diese Vorkehrungen jetzt durchgeführt werden müssen?

Wir erleben Kinder als sehr vernünftige Wesen zur Zeit. Wichtig ist, dass offen kommuniziert wird und Kinder die Möglichkeit haben, zu verstehen, um was es zur Zeit geht. Es bringt nichts, sie mit schlimmen Fotos oder News zu konfrontieren. Darauf folgt oft eine Angstreaktion und wenn wir aus Angst heraus handeln, entstehen soziale Komplikationen. Besser ist es, zu erklären und für die Kinder und ihre Fragen ein offenes Ohr zu haben. Die Zeit wertvoll machen: Basteln, vorlesen, auch Einzelbeschäftigung hilft sehr. Und man sollte auch versuchen, selbst Abstand zu gewinnen. Wenn es zu Konflikten kommt, ist vielleicht nicht immer gleich der Coronavirus dafür verantwortlich.

Die Zeit wertvoll machen: Basteln, vorlesen, Spaziergänge im Wald....

Gerade in Städten haben Familien oft keinen Garten. Wie wichtig ist deiner Meinung nach ausreichend Bewegung für alle Familienmitglieder?

Als Motopädagogin empfehle ich sehr viel Bewegung draußen, im Wald aber auch im Quartier. Am besten viele Materialien mitnehmen – einen Ball, Seilchen, einen Drachen basteln und steigen lassen. Andererseits sollten wir den Kindern auch Freiraum schenken, sie einfach mal rumtoben lassen draußen. Bewegungsspiele, aber auch gemeinsames Singen fördern Glücksgefühle. Bewegung lenkt ab und macht den Kopf frei und Kinder fühlen sich im Freien nicht so eingeschränkt wie in der Wohnung.

Ein anderes großes Thema ist das der Einsamkeit. Was kann man tun, wenn man sich einsam fühlt?

Viel telefonieren, auch mal wieder eher Unübliches tun, wie zum Beispiel Briefe schreiben, Blumen versenden, kleine Aufmerksamkeiten verteilen, andere nicht vergessen und gut für die eigene Psychohygiene sorgen. Auch hier gilt: den Tag in kleine Phasen einteilen, Highlights setzen und Belohnungen nicht vergessen. Ich empfehle Übungen zu positivem Denken und Affirmationen. Singen oder Musizieren auf dem Balkon und sich immer wieder in Dankbarkeit üben. Und ganz wichtig – nur portionsweise Nachrichten hören, sehen oder lesen. Man sollte im Moment lieber punktuell und aufmerksam konsumieren, als sich permanent davon runterziehen zu lassen, ohne dabei wirklich hundertprozentig aufmerksam zu sein.

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