Der Corona-Shutdown ist was für Mitläufer

Ich weiß, man soll die derzeitige Krise nicht mit dem Krieg vergleichen. Das will ich auch gar nicht. Allerdings beobachte ich gern den Herdeninstinkt und die Schnelligkeit, mit der unsere Gesellschaft von einem Extrem ins andere fällt. Da könnte sich die ersehnte Herdenimmunität ruhig mal eine Scheibe von abschneiden, statt so kokett auf sich warten zu lassen.

Herdenimmunität ja, Herdeninstinkt nein

Jedenfalls lese ich gerade Stefan Zweigs "Die Welt von Gestern" und musste aufhorchen, wie er die Stimmung im Juli 1914 beschreibt. Das Attentat von Sarajevo war schon verübt worden, die Kriegsmaschinerie am Laufen. Genau wie der Rest der zivilen Gesellschaft wusste Zweig nichts davon und fuhr in ein belgisches Kurbad, wo sich deutsche, französische, russische Touristen nebeneinander tummelten, mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie in den Jahrzehnten zuvor. Man ahnte etwas von der Bedrohung, aber man winkte ab.

Dann begannen die Zeitungen, Stimmung zu machen und die öffentliche Wahrnehmung in den Ländern Europas änderte sich innerhalb von ZWEI Wochen so sehr, dass die Leute an eine deutsch-französische Erbfeindschaft glaubten. Und mit der absoluten Überzeugung an die Front fuhren, dass das jeweilige Nachbarvolk aus den schlimmsten Lumpen besteht und nieder gemacht werden muss.

Homeoffice statt Venedig-Ausflug

Ist es populistisch, wenn ich in diesem so plötzlichen Umschwenken eine Parallele zu heute sehe? Waren wir nicht im einen Moment noch ironisch lachende Skeptiker und wurden dann von den Fakten überrollt? Ich nehme mich da nicht aus. Auch ich habe vor drei Wochen noch behauptet, dass ich mit meiner Tochter an Ostern nach Venedig fliege, komme was wolle. Alles andere erschien mir lächerlich. Versteht sich von selbst, dass an Ostern stattdessen nun "Homeoffice" angesagt ist.

Kein Mensch blickt mehr durch in der Flut von Zahlen und Informationen. Und mir hängt sie auch langsam zum Hals raus. Es ist sowieso, wie es ist.

Klar, 1914 war es blinde, widersinnige Hetze, die von der die Gesellschaft umgedreht wurde. Heute geht es um eine real existierende Krankheit. Ich will hier keine Grundsatzdiskussion anzetteln. Weder darüber, wie gefährlich die Pandemie nun tatsächlich ist, noch über die Verhältnismäßigkeit der Gegenmaßnahmen. Kein Mensch blickt mehr durch in der Flut von Zahlen und Informationen. Und mir hängt sie auch langsam zum Hals raus. Es ist sowieso, wie es ist.

Was mich jedoch stört, und deshalb schreibe ich diese Kolumne, ist dieser unumstößliche Konsens der Menschen um mich herum. Im einen Moment wird noch gelacht über die Hysteriker mit Atemschutzmasken, im nächsten gelte ich als asozial und rücksichtslos, wenn ich keine trage. Die Leute springen von einem Fuß auf den anderen, keiner weiß, was los ist. Aber wehe, irgendwer weicht von der Linie ab.

Im einen Moment wird noch gelacht über die Hysteriker mit Atemschutzmasken, im nächsten gelte ich als asozial und rücksichtslos, wenn ich keine trage.

Es kommt mir vor, als gäbe es nur noch die irren Verschwörungstheoretiker an den Rändern, und die große Masse der schweigenden, alles erduldenden Mehrheit. Dazwischen sind keine Stimmen mehr erlaubt, zumindest höre ich sie nicht. Und gerade in dieser Situation wird wieder Helmut Schmidts Gassenhauer bemüht: "In der Krise beweist sich der Charakter." Ist das so? Na, servus. Was soll man dann von all den Mitläufern und Denunzianten halten? Ist es cool, die Corona-Party feiernden Nachbarn bei der Polizei anzuzeigen, wenn man damit Leben rettet? Ist in Zeiten, da es um Leben und Tod geht, die Qualität des Lebens nichts mehr wert?

Denn noch etwas stört mich: Dass unter der Ägide von Virologen alles zum Luxusproblem degradiert wird, das nichts mit der Krankheit zu tun hat. Dabei kann noch niemand sagen, welchen Schaden die Gegenmaßnahmen letztlich anrichten werden. Und ich spreche hier nicht von "der Wirtschaft" im Allgemeinen. Davon habe ich keine Ahnung, hege aber den leisen Verdacht, dass das Bruttosozialprodukt längerfristig nicht allzu sehr leiden wird.

Ist Lebensqualität ein Luxusproblem?

Ich meine damit fragile Dinge wie unser Kulturleben. Waren wir uns nicht bis vor Kurzem noch alle einig darüber, dass das Clubsterben blöd ist? Dass man was tun muss gegen die Schließung von Kinos und Kneipen? Ja, was denkt ihr denn, wie viele von denen nach dem Shutdown und seinen Folgen noch da sein werden? Die Gastronomen, Künstlerinnen und Künstler, die ich kenne, schauen allesamt in eine sehr trübe Zukunft. Ist es ein Luxusproblem, darüber zu reden?

Und wird sich diese Mentalität des vorauseilenden Gehorsams wieder umkehren lassen? Gerade neulich hat eine Bekannte gesagt: "Ein Gutes hat Corona ja: Die Leute saufen jetzt nicht mehr überall in der Öffentlichkeit. Von mir aus können wir das gern beibehalten." Wenn ich sowas höre, kriege ich das kalte Kotzen. Genau aus diesem Grund sperre ich mich auch gegen eine überwachende App. Weil solche Moves später nie zurückgenommen werden. Dann darf ich mich in Zukunft für jeden Gin Tonic vor meiner Krankenkasse rechtfertigen.

Sorry, dass ich so eine miese Stimmung verbreite. Ich dachte nur, wenn es sonst niemand tut, sage ich halt mal was. Und bevor die Kommentarspalte wieder überquillt von charmanten Fragen wie: "Und für so einen Scheiß wird der Clint auch noch bezahlt?" Nein, werde ich nicht. Weil alle Magazine und Zeitungen gerade sehr bedacht mit ihren Budgets umgehen müssen. Das ist nämlich auch eine Nebenwirkung von Corona: Dass freie Autor*innen nicht mehr richtig publizieren, geschweige denn auftreten können, und somit zum Schweigen gebracht werden.

Aber die Gedanken müssen fließen. Gerade in solchen Zeiten. Denn wer weiß, welche Wahrheit morgen allgemeingültig ist? Vielleicht wird mir dann von meinem sozialen Umfeld wieder weisgemacht, dass der Franzos ein ausgemachter Schuft ist. Bis dahin fände ich ein bisschen mehr Unvernunft erfrischend. Allein schon deshalb, weil wir Berlin sind, verdammt noch mal. Dumm, aber sexy. Das ist kein Aufruf, gegen die Maßnahmen zu verstoßen. Aber vielleicht zu ein bisschen mehr Gelassenheit, wenn ihr jemand anderen bei einem Verstoß beobachtet.

Bis dahin fände ich ein bisschen mehr Unvernunft erfrischend. Allein schon deshalb, weil wir Berlin sind, verdammt noch mal. Dumm, aber sexy.
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