Zwischen Mundschutz und Grenzen: Wenn die Bahnfahrt zur Dystopie wird

© Lilly Brosowsky

Der Zug fährt ab und ich bekomme Panik, als hätte ich vergessen, mir ein Ticket zu kaufen. Oder meinen Koffer am Bahngleis stehengelassen, oder wäre in die falsche Richtung losgefahren. Aber nein: Mein Koffer steht neben mir, das Handy liegt vor mir. Darin ist mein Ticket abgespeichert und es zeigt mir 16:07 Uhr an – kein anderer Zug fährt um sieben Minuten nach vier von dem kleinen Bahnhof in dem Kaff, aus dem ich gerade abreise, los. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort also, das falsche Gefühl bleibt.

Die Freiheit, unterwegs zu sein

Wir fahren durch die wunderschöne Landschaft, die ich die letzten vier Wochen zwischen meinen Home-Office Stunden wieder einmal Zuhause genannt habe. Vorbei an hochaufragenden Bergen, die mir unwirklich nahe vorkommen. Durch menschenleere Wiesen und scheinbar menschenleere Orte. Niemand steigt ein. Niemand steigt aus. Ich komme mir vor wie in einem Geisterzug. Als hätte ich den Weltuntergang verpasst und wäre in der Dystopie aufgewacht: Wo die Natur sich längst alles zurückerobert hat, Menschen selten zu sehen sind und seltsamer Weise weiterhin Züge wie durch Geisterhand durch die Gegend fahren.

An dieser Stelle bekommt mein Gedankengespinnst einen Knacks, denn, dass Züge auf einmal ohne unser Zutun fahren, während alles andere still liegt, klingt nicht logisch – nicht logisch, im Gegensatz zum Rest der Bilder in meinem Kopf? Was ich hier mache, frage ich mich trotzdem intuitiv. Die Antwort kenne ich eigentlich. Wie lange ich mir überlegt habe, ob ich diese Reise, die ich davor so oft gemacht habe, antreten soll. Oder darf.

Landschaft Freiheit Bahnfahrt Reise
© Lilly Brosowsky
Niemand steigt ein. Niemand steigt aus. Ich komme mir vor wie in einem Geisterzug. Als hätte ich den Weltuntergang verpasst und wäre in der Dystopie aufgewacht.

Dass ich vor kaum einem Monat noch mit einem Interrail-Ticket quer durch Europa gereist bin, kommt mir gerade so unwirklich vor, wie der Gedanke, es könnte irgendwann wieder genau so werden. Was ich vielleicht am Bahnsteig vergessen habe, nicht heute vor der Abfahrt, sondern schon vor einigen Wochen, als ich von meiner Reise zurückgekommen bin ins Corona-Deutschland, in dem vom einen auf den anderen Tag alles anders war, ist, wie sich selbstverständliche Freiheit anfühlt.

Hinzugehen, wohin immer ich will und wann ich es will. Quer durch Europa zu reisen, ohne jemandem dafür Rechenschaft schuldig zu sein. Und jetzt sitze ich hier, im Zug zwischen Bayern und Baden-Württemberg, Ausweiskopien in der Hand und einer guten Begründung im Kopf für diese Reise über Grenzen, die für mich bis dahin nicht mehr waren als wage wahrgenommene Schilder an Landstraßen. Dahinter klebt die zweifelnde Frage, ob ich mir diese Freiheit gerade nehmen darf oder nicht. Europa kommt mir unglaublich weit weg vor.

Landschaft Freiheit Bahnfahrt Reise
© Lilly Brosowsky

Grenzen, wo es vorher nur Blechschilder am Straßenrand gab

Ich bin beinahe erleichtert als die Schaffnerin, von der ich mir eine Antwort erhoffe, Ende des Zweifels so oder so, durch den Gang auf mich zukommt – also doch kein Geisterzug denke ich – und zieh mir schnell meine Mundschutzmaske über. Die haben wir vor der Abreise noch selbst genäht und beinahe sieht sie aus wie aus dem explodierenden Leben dort draußen geschnitten: Knallgrünes Gras gegen tiefblauen Himmel, ein Stück heile Welt auf meinem Gesicht, gegen dieses unsichtbare Virus, das uns alle so fest im Griff hat.

Sie kommt näher, sieht müde aus, die Schaffnerin, Gummihandschuhe hängen ihr aus der Hosentasche. Wieso sie sie nicht trägt, frage ich mich, spüre aber im selben Moment die ätzende Hitze zwischen meinen eigenen Handschuhen und meinen von diesem warmen Tag nass geschwitzten Händen. Unerträglich, den ganzen Tag so arbeiten zu müssen.

Ausweiskopien in der Hand und einer guten Begründung im Kopf für diese Reise über Grenzen, die für mich bis dahin nicht mehr waren als wage wahrgenommene Schilder an Landstraßen.

Im Vorbeirennen schaut sie mich kurz belustigt an, wegen der Gummihandschuhe und der knallgrünen Maske? Oder weil ich mit Ticket und Ausweiskopien angespannt da sitze und darauf warte, streng gefragt zu werden, mit welcher Begründung ich hier gerade über Bundesländergrenzen fahre. "Bringen Sie es dem Zugpersonal einfach glaubwürdig rüber." Hat die nette Auskunft des bayrischen Gesundheitsamtes gesagt. Die Richterin meiner Glaubwürdigkeit aber will von mir gar nichts wissen, läuft ohne anzuhalten weiter den Zuggang entlang und lässt mich mit meinem Zweifel im nun wieder menschenleeren Wagon zurück.

Ausweis, Maske, Glaubwürdigkeit: die heilige Dreifaltigkeit

Eine Antwort bekomme ich während der ganzen Reise nicht, aber als ich in München aussteige, stehe ich auf einmal zwischen mehr Menschen als ich im ganzen letzten Monat gesehen habe. Kaum jemand trägt Masken, geschweige denn Handschuhe, niemand will meinen Ausweis sehen – es ist leerer als sonst. Aber nicht die menschenleere Dystopie, mit der ich kurz gerechnet habe. Beinahe normal hier, aber eben nur fast. Denn was hängen bleibt von dieser Zugfahrt, ist der Ansatz eines neuen Gefühls: die selbstverständliche Unfreiheit. Ein Gefühl, mit dem so viele Menschen immer leben, von dem man weiß und es deshalb nachvollziehen will – aber vielleicht nie wirklich kann bis man es selbst erlebt hat. Vielleicht habe ich sie heute zum ersten Mal gespürt.

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