Zwischen harter Realität und einer besseren Zukunft – Was träumen Berliner Obdachlose nachts?

"Du glaubst nicht, was ich gestern Nacht geträumt habe!" Diesen Satz hat sicher jeder von uns schon mal gehört oder selbst gesagt. Denn wenn wir schlafen, herrscht nur von außen betrachtet Ruhe, in unserem Kopf spielt sich ein oscarreifes Kopfkino ab. Im Traum ist alles möglich, wir können überall hin oder uns in andere Existenzen verwandeln. Wenn wir träumen, finden wir uns manchmal auch in surrealen Situationen wieder: Wir werden von einer Herde Elefanten gejagt oder essen mit dem unbekleideten Ryan Gosling zu Mittag. Ob Traum oder Albtraum, der nächtlichen Welt unserer Gedanken sind keine Grenzen gesetzt. Unsere Träume erzählen uns, was uns im Innersten bewegt, sie verwandeln unsere Sehnsüchte und Ängste in Bilder und offenbaren, worum sich unsere Gedanken unterbewusst drehen, wovor wir uns fürchten und was uns wichtig ist.

Aber was beschäftigt eigentlich Menschen, die sich nicht wie wir jede Nacht in kuschelige Decken gehüllt auf bequeme Matratzen betten? Ich habe mich mit Menschen ohne Obdach unterhalten, um herauszufinden, welche Dinge sich in ihren Köpfen abspielen, sobald sie ins Reich der Träume abdriften.

© Milena Magerl
Wenn ich aufwache, weiß ich nie, ob ich fröhlich oder traurig sein soll – fröhlich, weil der Traum so schön war, oder traurig, weil es im echten Leben anders ist.
Gavril

Gavril lebt seit vielen Jahren schon auf der Straße, gemeinsam mit seiner Frau und zwei Kindern. Er erzählt mir, dass er selten träumt, weil er häufig nachts aufwacht, da es einfach unbequem ist oder er friert. "Manchmal", sagt er, "ist es aber auch schön, sich nachts in die Träume zu flüchten und der Realität zu entfliehen." Dann träumt er immer und immer wieder von bestimmten Situationen aus seiner Vergangenheit, in denen er kein Glück hatte. Im Traum verlaufen diese Szenarien zu seiner Gunst und alles wendet sich zum Guten. "Manchmal bin ich Millionär, manchmal habe ich ein tolles Haus mit einem schönen Garten und alles ist sicher. Manchmal fährt der LKW an mir vorbei, der meine Frau angefahren hat, aber im Traum passiert ihr nichts. Wenn ich aufwache, weiß ich nie, ob ich fröhlich oder traurig sein soll – fröhlich, weil der Traum so schön war, oder traurig, weil es im echten Leben anders ist."

© Milena Magerl
Während ich obdachlos war, hat mein Kopf tagsüber verrückt gespielt, aber seit ich wieder ein Obdach habe, ist es eher nachts so.
Klaus

Klaus hat über sieben Jahre auf der Straße gelebt. Seit vier Wochen kann er sein Glück kaum fassen, denn er hat endlich eine Unterkunft, ein eigenes Zimmer im Wohnheim. Seine Träume haben sich immer dann verändert, wenn sich auch seine Situation verändert hat. "Während ich auf der Straße leben musste, habe ich immer von der Vergangenheit geträumt, von meiner Frau und meiner Tochter, einem Haus, von guten Zeiten und Geborgenheit und vielleicht auch Sicherheit, eigentlich alles was ich vermisst habe. Meine Träume waren sehr real und gar nicht verrückt", sagt er. Seit er wieder ein Dach über dem Kopf habe, träumt er wieder viel abstrusere Szenarien. "Während ich obdachlos war, hat mein Kopf tagsüber verrückt gespielt, aber seit ich wieder ein Obdach habe, ist es eher nachts so." Er erzählt mir, dass er denkt, dass es daran liegt, dass er jetzt eine Sorge weniger hat, die ihn belastet. Jetzt ist sein Kopf wieder frei, sich der Fantasie hinzugeben.

© Milena Magerl
Ich würde behaupten, dass ich eigentlich jede Nacht auch von meinen Weinbergen träume.
Olaf

Olaf treffe ich am Bahnhof Zoo. Er ist direkt super offen, und lädt mich ein, mich zu ihm zu setzen. Als ich ihn nach seinen Träumen frage, beginnt er sofort damit, mir im Detail von seinen nächtlichen Erlebnissen zu berichten: "Ich träume fast täglich davon, wie ich die Reben in Bozen schneide", erzählt er mir. Er hat jahrelang in Südtirol als Weinbauer gearbeitet und würde gerne wieder dorthin zurück. Fast eine Stunde erzählt er mir davon. "Das war eine gute Zeit dort unten. Das beschäftigt mich jeden Tag, tagsüber und im Traum. Ich weiß noch, dass ich früher, bevor ich auf der Straße gelebt habe, viel verrücktere Sachen geträumt habe. Jetzt träume ich meistens auch viele unterschiedliche Dinge, aber ich würde behaupten, dass ich eigentlich jede Nacht auch von meinen Weinbergen träume."

© Milena Magerl
Ich hab' immer was Mordswichtiges zu tun und alle Leute kennen mich.
Mike

"In meinen Träumen, oh, da geht's wild zu. Ich bin meistens viel größer im Traum, also so von der Körpergröße her. Ich schlafe auch nie auf der Straße, sondern bin irgendwo unterwegs und habe wichtige Jobs zu erledigen, fast schon wie ein Geheimagent. Ich hab' immer was Mordswichtiges zu tun und alle Leute kennen mich", sagt Mike. Er lebt in Schöneweide und hat sein Lager in der Nähe des S-Bahnhofes aufgeschlagen. Er freut sich darüber, dass wir uns unterhalten: "Viele Leute laufen vorbei, keiner interessiert sich wirklich für uns."

© Milena Magerl
Von Freiheit träume ich auch, ich reise irgendwohin, meistens nach Schottland oder Irland, da wollte ich immer schon mal hin.
Alex

"Oft träume ich, dass mich jemand bedroht oder mir mein Essen klauen will, dann muss ich mich verteidigen. Ich glaube das hat viel mit meiner Vergangenheit zu tun, was mich immer noch beschäftigt. Tagsüber kann ich mich davon distanzieren, aber nachts kommt es immer wieder. Aber von Freiheit träume ich auch, ich reise irgendwohin, meistens nach Schottland oder Irland, da wollte ich immer schon mal hin", erzählt mir Alex, mit dem ich in der Suppenküche in Pankow ins Gespräch komme.

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Ich träume oft (...) von einem warmen Haus.
Bodo

Bodo ist obdachlos, aber er engagiert sich auch bei der Obdachlosenhilfe "Warmer Otto" in Moabit, dort kocht er gemeinsam mit anderen jeden zweiten Mittwoch im Monat, darauf ist er besonders stolz. "Ich träume oft von 'Otto', von meinen Freunden, Leuten aus der Obdachlosenhilfe und von einem warmen Haus. Die Zeit, die ich hier bei 'Otto' verbringe, ist irgendwie immer gut, besser als der Rest des Tages."

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Tagsüber weiß ich, dass meine Träume irreal sind und ich nicht in Portugal bin. Aber in meinen Träumen habe ich jede Freiheit.
Christoph

Christoph träumt von Portugal. "Vor vielen Jahren, vielleicht zwanzig Jahren, bin ich einmal dort gewesen. Tagsüber weiß ich, dass meine Träume irreal sind und ich nicht in Portugal bin. Aber in meinen Träumen habe ich jede Freiheit und kann in Gedanken immer wieder dorthin reisen. Ich denke natürlich immer an die Orte, in denen ich auch damals war, aber träume mich auch in die Zukunft, in der ich in Portugal zuhause bin, von Straßen, die so wahrscheinlich gar nicht existieren.

Die Ernsthaftigkeit der Träume von Christoph und den Anderen hat mich überrascht. Eigentlich hatte ich surreale Szenarien und irrsinnige Geschichten erwartet, aber die Träume waren viel enger mit der eigenen Realität und der Vergangenheit der Person verbunden. Auch im Unterbewusstsein der Männer spielen Sehnsüchte aus dem echten Leben eine große Rolle. Ihre Träume sind Rückzugsort von der harten Realität und Wunschvorstellung einer besseren Zukunft zugleich. Auch hat mich erstaunt, dass mir so bereitwillig private Geschichten erzählt wurden. Arm zu sein bedeutet heute nicht mehr nur am Existenzminimum zu leben, sondern vor allem auch die Ausgrenzung von der Gesellschaft, der öffentlichen Teilhabe. Viele Obdachlose fühlen sich einsam und nicht mehr wertgeschätzt und freuen sich, wenn sich jemand für ihr Schicksal interessiert. Mit einer warmen Tasse Kaffee und fünf Minuten eurer Zeit könnt ihr ihnen eine große Freude machen.

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