Ein Monat ohne Spiegel – Wie besessen von unserem Äußeren sind wir eigentlich?

© Filmausschnitt "Marie Antoinette"

Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, es rumpelt noch ein wenig im Treppenhaus, dann sind sie weg: die junge Studentin, ihre Eltern und mein riesiger, dreitüriger Kleiderschrank, den ich im Kleinanzeigenportal angeboten und an sie verkauft hatte. Ich bin erleichtert, stecke zufrieden das Geld in die Hosentasche und werfe mir einen Mantel über, um gleich rechtzeitig bei meiner Verabredung zu erscheinen. Kurz vor dem Verlassen der Wohnung werfe ich noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, um zu – Moment. Wo ist der Spiegel? Dann dämmert es mir langsam: Der Spiegel war an einer der Schranktüren angebracht, die jetzt gerade in einem klapprigen Sprinter auf dem Weg nach Kreuzberg liegt. Ich bin plötzlich spiegellos.

Wie konnte mir das nur passieren? Wie soll ich jemals wieder das Haus verlassen, ohne mich vorher einer optischen Generalprüfung unterzogen zu haben? Woher weiß ich, dass die Weite des Hosensaums zu diesen Schuhen gut aussieht? Es ist eine mittelschwere Katastrophe für eine schamlos eitle Person wie mich, der gutes Aussehen, Mode und "Haare schön" durchaus sehr wichtig sind. Na gut, denke ich, challenge accepted. Dann nutze ich die Gelegenheit eben für eine kleine Selbstbeobachtung. Einen Monat ohne Spiegel, das klingt einigermaßen furchtbar und damit eben auch wieder spannend.

Woche 1: Verunsicherung

Die erste Erkenntnis sickert schon nach wenigen spiegelbildlosen Stunden in mein Bewusstsein: Ich bin verdammt abhängig von diesem Ding. Sehr viel mehr, als mir lieb ist oder ich mir jemals eingestanden hätte. Hab ich was zwischen den Zähnen? Wächst da ein Pickel? Wie sitzen die Haare? Kann ich so gehen? Die Verunsicherung darüber, wie ich gerade aussehe und ob mein Äußeres den allgemeinen Regeln entspricht – keine Flecken auf dem Shirt, keine Essensreste im Gesicht, angedeutete Frisur – wird zur allgegenwärtigen Sorge. Ich behelfe mir mit einem 4x4 Zentimeter großen Schminkspiegel und der Frontkamera am Handy, um nicht völlig verrückt zu werden bei diesem kalten Entzug. Angezogen wird nur, was ganz sicher passt und funktioniert, keine Experimente. In dieser ersten Woche dominiert das Gefühl der Unsicherheit – und obwohl mein persönliches Umfeld kein oberflächliches ist, habe ich doch das Gefühl, ein wenig unterlegen zu sein. Und ich vermisse mich ein bisschen. Wie sieht nochmal der Leberfleck auf der Wange aus? Sich spiegeln zu können bedeutet wohl immer auch die Möglichkeit der Selbstversicherung – hallo, ja, es gibt mich, das ist meine Hülle.

Woche 2: Aufstand

Die erste Woche ohne Spiegel war trotz all der Entnervtheit und Überbeschäftigung mit dem Thema ganz gut zu überbrücken. Was besonders daran lag, dass ich nur wenige Termine und zugleich einen gnädigen Schnupfen hatte, der mich vorwiegend in der Komfortzone meiner eigenen vier Wände bleiben ließ. Nun aber stehen diverse Events, Treffen und eine Familienfeier an, also alles Gelegenheiten, bei der selbst weniger eitle Zeitgenossen wie ich gerne mal vorher ein oder zwei Outfits anprobieren oder die richtige „Dieses Bild von mir landet im Internet“-Pose üben. Ich hingegen erfinde etwas, das ich „Reversed Shopping“ nenne, nämlich bereits gekaufte Teile wieder in einen Laden tragen und dort in verschiedenen Kombinationen anprobieren. Sobald ich in der Umkleide stehe, fällt mir allerdings auch wieder ein, dass Spiegel gepaart mit Neonröhrenlicht durchaus dazu in der Lage sind, ein halbwegs stabiles Selbstbewusstsein binnen Sekunden zum Einsturz zu bringen. Frustrierend, sich der Macht des eigenen Anblicks so ausgeliefert zu sehen und eine gruselige Entwicklung der Neuzeit. Ob sich Neandertaler wohl auch in Pfützen gespiegelt und ihre Nase zu breit gefunden haben? Wohl kaum.

Woche 3: Kapitulation

Mittlerweile bin ich von Genervtheit zu Resignation übergetreten und beginne mich zu fragen, seit wann wir unserer äußeren Hülle überhaupt so eine hohe Bedeutung beimessen. Sind wir alle so schlimme Narzissten? Der Mensch ist, neben ein paar cleveren Menschenaffen, das einzige Lebewesen, das sein eigenes Spiegelbild erkennt – daraus ist wohl über die Jahrhunderte eine gewisse zwanghafte Beschäftigung entwachsen. Durch soziale und stark visuell betonte (soziale) Medien wächst noch der Druck, stets wie aus dem Ei gepellt herumzulaufen. „Woke up like this“ wurde binnen von Tagen zur ironischen Antwort auf unser Unvermögen, unsere Äußerlichkeiten unkommentiert und ohne Rechtfertigung einfach das sein zu lassen, was es ist. Ein Körper ist doch einfach nur Körper, den man schön finden kann und darf, aber nicht muss. Bei den Tauben auf der Straße fragt man sich ja auch nicht, ob die eine attraktiver aussieht als die andere. Warum dann ständig beim Menschen danach urteilen, anstatt den Körper einfach sein zu lassen, was er ist? Haut, Haare, Poren, Organe, Knochen, Knorpel, Popel, Zahnfleisch und so weiter. Wo wir gerade von Popel sprechen: Nach zwei Stunden Meeting auf der Büro-Toilette zu entdecken, dass einem die ganze Zeit Schniefnaseninhalt an der Oberlippe hing: Check.

Woche 4: Entspannung

Was soll’s. „Is eh’ scho’ wurscht“, höre ich Meister Eder in meinem Kopf sagen. Inzwischen habe ich mich an die Abwesenheit meines Spiegelbilds irgendwie gewöhnt, es fühlt sich nicht mehr an wie „Ich ohne mich“. Ich bin einfach – und es ist die meiste Zeit ziemlich egal, wie ich dabei aussehe. Wie viel sollte auch schiefgehen? Bis auf den Popel-Zwischenfall fühle ich mich dem Alltag eigentlich auch ohne ständige optische Prüfung ganz gut gewachsen und bei Jeans und Sweatshirt lässt sich ohnehin nicht so viel falsch machen. Es bleibt in gewissen Momenten durchaus komisch, nicht so genau zu wissen, wie ich grade aussehe. Aber aus diesem Gefühl folgere ich vor allem, dass ich mich in meiner prä-spiegellosen Ära einfach ein wenig zu viel vor dem Ding aufgehalten habe. Gut zu merken, dass es auch ohne geht.

Und jetzt?

Nach gut 5 Wochen besitze ich nun wieder einen Spiegel. Ohne aufwendiges Suchen durch Zufall entdeckt, hängt er jetzt an der Wand und es wurde ziemlich schnell klar, wofür wir Spiegel eigentlich am häufigsten nutzen sollten: Um davor mit Haarbürste als Mikrofon zu unseren Lieblingshits zu tanzen.

© Giphy
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