Wie überlebt man diesen Berliner Sommer?

© Kerstin Musl

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, unscheinbaren Rätseln des Alltags. Dieses Mal: Wie übersteht man das, was der Berliner Sommer ist?

Es ist Sommer. Zum Glück aber nicht in Berlin. Hier ist gerade das, was in Freiburg als ungemütlicher Oktober gilt, aber immerhin kann man dann die Jack-Wolfskin-Sachen etwas früher wieder rausholen. Dass Berlin nicht Rimini ist, muss man niemandem mehr erklären, aber dass der Berliner Sommer Jahr für Jahr eine bittere Enttäuschung ist, das tut immer wieder aufs Neue weh. Im März noch kauft man hoffnungsvoll neue Adiletten, Ende Juni heult man leise in die Tasche des Regenmantels und fühlt sich wie nach einer Fahrt mit der U8 an einem schwülen Freitagabend: krank, schwach und ganz und gar abgeturnt von Menschen, der Welt und sonst alles.

Trotzdem aber ist Sommer. Was macht man da nun? Wie übersteht man eine Jahreszeit, die sich nicht vorschriftsmäßig verhält, in einer Stadt, in der ohnehin so wenig nach Plan läuft? Die Wahrheit ist: Ich weiß es doch auch nicht. Aber ich habe ein paar Entwürfe gemacht. Für den Fall, dass ich vor Oktober doch nochmal rausgehe.

Möglichkeit 1: Flucht nach vorn

Seit 21. Juni ist Sommer, so steht es im Kalender geschrieben und so muss man sich auch verhalten, zumindest, wenn jemand sich dafür entscheidet, einen Sommer dort herzustellen, wo nur auf dem Papier einer ist. Wo kämen wir sonst hin? Weihnachten wird auch immer am selben Datum gefeiert! Also los, den Sommer leben, erschaffen, entwerfen, auch wenn es sich gar nicht danach anfühlt. Vorbild sein, Macher sein, zur Speerspitze der Birkenstock-Einheit gehören! Abmarsch zur Eisdiele, Sorbet fassen, jeder nur eine Kugel. Designe dir mit Photoshop die Sonne an den Himmel und mit einem Instagram-Filter den Sonnenbrand ins Gesicht.

Nimm an jedem Rooftop-Event, jeder Open-Air-Veranstaltung teil, kauf' dir Tickets für jedes "superschöne" Festival zwischen Flensburg und Friedrichshafen. Lebensfreude wird jetzt in Kubikmetern Bier, Weißweinschorle und Achselschweiß abgerechnet, alles muss fließen, zur Not mit Gewalt. The time is now, der Sky ist der Himmel und wer Sommer in Berlin will, muss ihn sich eben jetzt hermasturbieren.

Designe dir mit Photoshop die Sonne an den Himmel und mit einem Instagram-Filter den Sonnenbrand ins Gesicht.

Möglichkeit 2: Flucht nach drinnen

Antihaltung ist immer einfach. Sich im Sommer so zu verhalten, als wäre es ein milder Winter, befreit zumindest von dem Zwang, sich ständig draußen aufhalten und irgendwas mit Eiswürfeln trinken, nein, "genießen" zu müssen. Im Sommer wird ständig genossen, es ist die Zeit der Hedonisten und Gourmets, der Bonvivants, Fein- und Freigeister und Salonlöwen. Drinks, Häppchen, leichte Konversation, alles wird jetzt nicht mehr nur gemacht oder gar ertragen, sondern vollmundig mit fettigen Lippen (BBQ!) genossen. Eine schwer auszuhaltende Sprezzatura für Menschen, die auch in anderen Jahreszeiten keine Menschen mögen.

Aber man kann sich die Zeit und sozial-emotionale Energie auch sparen und drin bleiben. Alles zu verpassen ist in Berlin nicht weniger als die größtmögliche Form von Punk. Im bläulichen Licht des Bildschirms tschechische Märchenfilme gucken, während draußen mal wieder der Inhalt der Stadt von einem Sommergewitter am Fenster vorbeigeblasen wird, ist die sicherste Methode, den Sommer ohne körperliche und geistige Schäden zu überleben. Wenn einem von der Laptop-Lüftung zu warm geworden ist, liest man eben ein paar tagesaktuelle Nachrichten aus aller Welt und einem wird genauso kalt und schlecht wie nach drei Apérol Spritz auf Eis.

Alles zu verpassen ist in Berlin nicht weniger als die größtmögliche Form von Punk.

Möglichkeit 3: Flucht nach unten

Der Sommer ist eine gute Jahreszeit zum Sterben. Man liegt nicht lang im Kühlhaus, sondern darf schon bald in die kühle Erde, die Besucher der Beisetzung flüchten bei der nicht sofort nach Ende der Grabrede wieder nach drin und auf dem Grab selbt blühen noch lange ein paar schöne Nelken oder Rittersporn oder Dahlien. Dass man am besten zwischen Juni und September mit dem Leben aufhört, hat einen guten Ruf, auch unter Künstlern und anderen prägenden Figuren der Geschichte. Jim Morrison starb an einem 3. Juli, Frida Kahlo an einem 13., Heinrich der VI. im August und auch unser Familienkater Knopf beschloss an einem lauen Juniabend, als die Luft voll süßem Lavendelduft hing, dass es jetzt genug gewesen sei – und lief zielstrebig vor ein Auto. Zugegebenermaßen ist diese Flucht nach unten (oder, je nach religiöser Überzeugung, oben) keine Überlebensstrategie im eigentlichen Sinne, aber im Sommer wird man allein schon wegen der längeren Tage und der höheren Luftfeuchtigkeit ein wenig nachsichtig und mürbe im Hirn. Jedenfalls gilt auch hier aus Gründen der maßvollen Zurückhaltung und postmoderner Ressourcen-Awareness dieselbe Regel wie beim Eis: jeder bitte nur eine Kugel.

Der Sommer ist eine gute Jahreszeit zum Sterben.
Zurück zur Startseite