Ein Künstlerkollektiv öffnet unerlaubt U-Bahnhöfe für Obdachlose – ist das nur illegal oder genau richtig?

© Felix Kayser

In den vergangenen Tagen wurden in Berlin rund 50 U-Bahnhöfe nachts unerlaubterweise geöffnet. Dahinter steckt nach eigenen Angaben in diesem Video das bekannte Berliner Urban-Art-Kollektiv Rocco und seine Brüder, das sich für seine jüngste Guerilla-Aktion „Der Schlüssel zur Stadt“ offenbar tatsächlich Schlüssel der BVG nachmachte, um sich illegal Zugang zu verschlossenen U-Bahnhöfen zu verschaffen. Diesmal ging es aber nicht in allererster Linie um ihre Kunst, die Aktivisten wollten die Bahnhöfe vor allem wieder für Obdachlose in den Winternächten öffnen. Zudem hinterließen sie dort Tüten mit Goodies wie warmen Decken, orangenen Warnwesten, belegten Brötchen und einem Schlüssel für die Gitter der Bahnhöfe. Eine Diskussion darum, ob eine illegale Aktion wie diese hilfreich und zielführend ist, folgt natürlich prompt und trifft (mal wieder) einen wunden Punkt – nämlich die Frage nach den Zuständigkeiten in Extremsituationen wie diesen. Wer ist hier eigentlich für wen, was und wann verantwortlich? Die Stadt, die BVG, wir alle?

Wer ist zuständig: Der Senat oder die BVG?

Bei Minusgraden, wie wir sie in den vergangenen Wochen erlebt haben, sind die U-Bahnhöfe insbesondere nachts beliebter Anlaufpunkt für obdachlose Menschen. Sie sind windgeschützt und immerhin etwas wärmer als draußen. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben den Obdachlosen, die diese Möglichkeit für sich nutzten, aber in diesem Winter im wahrsten Sinne des Wortes einen Riegel vorgeschoben. Mehrere Berliner U-Bahnhöfe wurden geräumt, seit diesem Winter sind die Tore nachts für einige Stunden sogar komplett verschlossen. Die Begründung: Auf vielen Bahnhöfen sei es einfach zu gefährlich und man könne keine 24-Stunden-Überwachung gewährleisten. Immer wieder werde randaliert, durchfahrende Züge passieren die Haltestellen und auch der Hochleistungsstrom werde nicht abgeschaltet.

Das Projekt "Der Schlüssel zur Stadt" findet die BVG demnach gar nicht witzig und verurteilt es aufs schärfste – nicht nur, weil sie es für ausgesprochen gefährlich hält, sondern auch als falsch verstandenen Aktivismus einstuft. Schließlich gehe es den Aktivisten ihrer Meinung nach ja nur um ihre Selbstdarstellung. Zudem verweist die BVG auf die beiden nun existierenden Kältebahnhöfe am Moritzplatz sowie in Lichtenberg, die nach langen Streitereien bezüglich der Zuständigkeit zwischen BVG und Senat nun 24 Stunden durchgängig geöffnet und von der BVG bewacht werden. Dort sei zumindest für eine angemessene Betreuung durch Sozialarbeiter und eine sanitäre Grundausstattung gesorgt, die es an anderen Orten so nicht gebe. Im Schnitt suchen hier aber laut Tagesspiegel aktuell rund 50 Menschen pro Nacht Zuflucht.

Kältebahnhöfe am Moritzplatz und in Lichtenberg sind richtig & wichtig

Es ist immerhin dafür gesorgt, dass regelmäßig der Kältebus vorbeikommt, um die Menschen mit warmen Getränken zu versorgen und auch, um ihnen einen sicheren und trockenen Schlafplatz bei der Nothilfe anzubieten. Denn eine andere Wahrheit ist auch: Von rund 1200 Kältebetten in Berlin bleiben momentan 200 pro Nacht ungenutzt. Viele Menschen wollen die Bahnhöfe einfach nicht verlassen, weil sie sich bevormundet fühlen, strikte Konsumverbote in den Nothilfe-Einrichtungen fürchten oder einfach psychisch krank sind. Gründe gibt es viele.

Dass die U-Bahnhöfe am Moritzplatz und in Lichtenberg vorerst nachts geöffnet bleiben, ist zweifellos eine gute Sache, unter einem warmen und gemütlichen Schlafplatz versteht man aber (bei allem Respekt) sicherlich noch etwas anderes. Für eine Stadt in der Größenordnung von Berlin sind zwei Kältebahnhöfe trotzdem nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Für viele Menschen sind sie schlichtweg nicht gut erreichbar. Fakt ist, dass wir in Berlin mehr Orte brauchen, an denen Menschen in einer Krisensituation schnell und möglichst barrierefrei Unterschlupf finden. Dazu können neben provisorisch aufgestellten Containern oder sogenannten Traglufthallen auch U-Bahnhöfe zählen, die im Notfall Leben retten können. In Anbetracht dessen, dass es in Berlin im Jahr 2019 bereits den ersten Kältetoten gegeben hat, muss hier dringend über bürokratische Grenzen hinweg gehandelt werden können.

Sind geschlossene U-Bahnhöfe ein Sinnbild der Prioritäten unserer Gesellschaft?

Apropros dringend: Die SPD-Fraktion in Lichtenberg hatte erst am vergangenen Donnerstag einen Dringlichkeitsantrag für den Bau einer Traglufthalle eingereicht, der das "Tennisspielen auch im Winter" ermöglichen solle. Der Antrag wurde binnen kürzester Zeit durchgewunken. Einem Eilantrag für den Bau einer Traglufthalle für die Obdachlosen von der Rummelsburger Bucht wurde währenddessen noch nicht einmal stattgegeben.

Wir sollten uns deshalb alle öfter mal fragen, wo unsere Gesellschaft eigentlich Prioritäten setzt und setzen will. Worum geht es uns, wenn U-Bahnhöfe nachts geschlossen werden? Passiert das wirklich aus Gründen der Sicherheit? Oder geht es um Zuständigkeiten? Um Fragen des finanziellen Mehraufwandes für die Bewachung? Oder darum, Armut und Elend komplett aus unserem Sichtfeld zu verbannen? Natürlich handelt es sich bei der Aktion "Der Schlüssel der Stadt" streng genommen um Hausfriedensbruch und damit auch einen illegalen Akt, den wir nicht gutheißen. Aber wenn Kunst politisch sein soll und auch dafür da ist, soziale Missstände aufzuzeigen und zu kritisieren, dann hat sie es in diesem Fall getan!

Zurück zur Startseite