Warum wir aufhören müssen zu sagen, wie offen, bunt und tolerant Berlin ist

© Andreas Bohlender

"Ich hol' uns noch eine Flasche, okay?", sagt Toni, und ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt sie die leere vor sich in ihre linke Hand, schwingt ihre Beine nacheinander gekonnt über die Gartengarnitur des Holzmarkts, und verschwindet im Weingeschäft hinter uns. Alisha und ich müssen schmunzeln.
"Wir haben schon einen kleinen Dachschaden, dass wir bei den Temperaturen schon draußen Rosé trinken, oder?", sage ich grinsend.
"Auf jeden Fall." Alisha nickt und pustet warmen Atem sichtbar in die Berliner Kälte, während ich versuche, aus meiner Schachtel rote Gauloises eine Kippe zu ziehen.

Ich liebe diese Abende mit den beiden, denn Toni und Alisha sind zwei meiner engsten Freundinnen. Toni habe ich im Studium kennengelernt, Alisha kenne ich noch aus der Heimat. Seit einer ganzen Weile haben wir also schon einen festen Platz im Leben der anderen. So wie Lieblingsbücher, die seit Jahrzehnten im Regal stehen, und auf denen sich trotzdem nie eine Staubschicht bildet, weil sie einem jedes Mal aufs Neue beim Lesen ein gutes Gefühl geben und einfach die besten Geschichten auf Lager haben. Wir drei teilen alles miteinander. Oft passiert das übers Telefon oder unsere WhatsApp-Gruppe, am schönsten und intensivsten ist es aber in Gesprächen wie dem heute. In der letzten Ecke einer Raucherkneipe, der WG-Küche von Toni, oder irgendwo draußen, auch wenn die Weingläser schon fast am Tisch festfrieren.

"Und, bereit für Phase Zwei?", fragt Toni, als sie mit der nächsten Weinflasche um die Ecke biegt, da schaut Alisha sie irritiert an.
"Ach, stimmt", denke ich. Das mit den Phasen ist Toni und mir erst bei unserem letzten Treffen im Dave Lombardo aufgefallen, als Alisha nicht dabei sein konnte. Ohne sie haben wir da gleichzeitig festgestellt, dass all unsere Konversationen an den Abenden zu dritt immer einen festen Verlauf haben, einem bestimmten Rhythmus folgen, der so geht: Wir starten seicht, mit den leichten Themen. Wir quatschen über Popkultur (heute waren neue Songs von Selena Gomez dran), beschweren uns flüchtig über die BVG oder eine Situation im Job, dann stoßen wir an, nippen immer stärker an den Gläsern, fragen uns, ob wir ready für Kinder wären, verneinen, rauchen eine Zigarette darauf, direkt noch eine, reden über schlechte Dates oder blöde Sätze, die der Partner gesagt hat, und die uns noch im Kopf nachhallen, bis wir schlussendlich größere Schlucke nehmen, und die erste Flasche leer ist. Diese Phase, Phase Eins, ist mit dem Flaschentausch (Übrigens meine Titelidee für ein Spin-Off von "Frauentausch" mit Männern) heute also schon abgeschlossen.

Phasen Zwei und Drei

"Was glaubt ihr: Wird Trump aus dem Amt geschmissen?", fragt Toni jetzt, nachdem sie sich wieder auf die Bank geschwungen hat, und wir die Phasen für Alisha heruntergebrochen haben. Phase Zwei beginnt immer mit Politik. Meistens in Amerika. So wie gerade wieder reden wir dann erst mal über Trump, die Kandidaten für 2020, und Waffengesetze, bis wir nach dem ersten Glas der zweiten Flasche in Deutschland landen, beim Klimapaket oder der AFD, und der Frage, was man machen könnte, um wieder besser mit unterschiedlichen Seiten zu kommunizieren, oder ob man mit Nazis einfach nicht kommunizieren kann. Dann – irgendwann –, und das ist leider auch immer so, schwenkt das Gespräch. Von großen zu kleinen, persönlichen Geschichten, die aktuell im Allgemeinen diskutiert werden. #MeToo, Rassismus, Homo- und Transphobie, Antisemitismus. Zu Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben, oder der erweiterte Freundeskreis. Zu Phase Drei und einem Ritual, das für uns wichtig ist, therapeutisch ist, aber eins das belastet, weil es die Leichtigkeit für eine Weile wie ein Seelenfresser aus dem Gespräch saugt. Nun erzählt Toni schließlich, wie sie letztens auf dem Nachhauseweg abends von einem Mann verfolgt wurde, bis kurz vor die Haustür. Wie groß ihre Angst war, als er ab der Mitte des Wegs anfing, hinter ihr laut zu stöhnen, verdeutlicht ihr Gesichtsausdruck dabei, und wie schlimm sich das für sie anfühlte, sieht man ihr an, genauso wie ihre Erleichterung, als er irgendwann umdrehte.
"Aber wenigstens warst du am Telefon, Jules", sagt sie am Ende der Geschichte in meine Richtung.
"Fuck", denke ich, ich sage "Das tut mir leid, das alles", trinke einen großen Schluck Wein und lege meinen rechten Arm um sie.

Und kurz schäme ich mich beim Aussprechen des Satzes, weil ich gerade für eine Sekunde erleichtert bin, dass mir solche Dinge als weißer Cis-Mann in Deutschland eigentlich nur passieren, wenn mein Schwulsein wahrgenommen wird.

Eigentlich sollte man denken, dass das genug sei für den Abend, Tonis Geschichte, aber bei einer bleibt es in unserem traurigen Ritual fast nie. Und weil wir das alle schon ahnen, atmen wir für einen Moment gemeinsam warme Luft sichtbar aus, bevor Alisha von einem Typen erzählt, der sie vor zwei Tagen wegen ihrer Hautfarbe im Bus beleidigte. Wie sehr sie diese Situation beschäftigt hat, merkt man auch ihr jetzt beim Erzählen an, wenn ihre Stimme kurz bricht, obwohl sie sonst gerne tough ist. Aber wer kann schon tough bleiben, wenn rassistische und frauenfeindliche Situationen im Gepäck lasten, das man täglich mit sich rumträgt? Irgendwann reicht es auch.
"Das ist so scheiße", sage ich zu ihr am Ende, weil mir nichts Besseres einfällt, und sich jede Reaktion sowieso banal anfühlt, und kurz schäme ich mich beim Aussprechen des Satzes, weil ich gerade für eine Sekunde erleichtert bin, dass mir solche Dinge als weißer Cis-Mann in Deutschland eigentlich nur passieren, wenn mein Schwulsein wahrgenommen wird.
"Ja, es ist fucked up!", antwortet Alisha darauf, als könnte sie in meinen Kopf schauen, und würde meine Selbstkritik bekräftigen. "Aber …", sagt sie dann weiter. "Wie fühlst du dich denn eigentlich gerade in Berlin?"
"Ich habe ehrlich gesagt ziemlich große Angst manchmal", beginne ich ruhig. "Mein letzter Vorfall ist zwar schon eine Weile her – was ja auch damit zu tun hat, dass ich schon länger wieder Single bin, und damit weniger sichtbar –, aber ich sehe ja trotzdem überall die Homophobie. Wenn eine Gruppe schwuler Männer bei mir um die Ecke am Zionskirchplatz angegriffen wird. Oder ein schwules Paar am Hauptbahnhof, oder zwei Männer im Tiergarten, und dabei sind das nur drei der Attacken, die im Oktober gemeldet wurden. Da gibt es noch viel mehr. Und das sind wiederum sind nur die Gemeldeten. Nur die, die Bericht erstattet haben." Jetzt habe ich mich ein bisschen in Rage geredet. Ich atme durch. "Also ja", sage ich dann ruhiger. "Es ist fucked up!"
"Jules", antwortet Alisha in einem ironischen Ton. "Aber Berlin ist doch so weltoffen, so bunt und tolerant", und noch während sie den Satz zu Ende ausspricht, schickt sie mich mit ihm in ein Flashback, zu meiner Anfangszeit in der Stadt, weil das Versprechen einer der Gründe war, warum ich nach Berlin gezogen war.

"Berlin ist doch so weltoffen, so bunt und tolerant."

Als ich vor sieben Jahren nach Berlin kam, fühlte sich alles unglaublich an, denn: Ich. War. Angekommen. In einer Stadt, in der ich endlich ich selbst sein konnte. Das dachte ich so zumindest. Warum auch nicht? Ich war immerhin überwältigt von den neuen Möglichkeiten, den Schwulenbars, dem Christopher Street Day, und davon, dass es bei Tinder eine Auswahl an homosexuellen Männern gab, die so viel größer war als die sieben Typen, die ich in meiner Heimatstadt fand. I've been looking for freedom, und hier war sie, die Freiheit. Ein bisschen naiv war das am Anfang schon, aber ich war Student, ich hatte die rosarote Brille ins Gesicht gezogen und mein Umfeld suggerierte mir schließlich andauernd, dass ich in meiner Vermutung Recht hatte, dass sich hier in Berlin nun auch mir die goldenen Tore zum Olymp für Minderheiten geöffnet hatten.
"Ach, das ist so schön, dass du jetzt hier der Julius sein kannst, der du immer sein solltest", haben sie dann auf den WG-Partys gesagt. "Das ist das tolle an der Stadt. Berlin ist so offen, bunt und tolerant. Jede Person kann ihr Ding machen, und wird dabei in Ruhe gelassen", wurde als Wahrheit immer wieder so dahingestellt, und weil ich daran glauben wollte, habe ich "Ja" gesagt auf den Partys, genickt, und meine Sorgen damals mit Wein in Plastikbechern runtergeschluckt und die Erfahrungen, die ich auch zu diesen Zeitpunkten schon gemacht hatte. Das wiederholte "Schwuchtel", wenn ich mit einem Mann handhaltend die Straße runterlief, das Angespucktwerden, und dieses eine Mal, als ich am Kottbusser Tor körperlich angegriffen wurde.

Ich hatte das Zepter von Zeus bekommen, warum sollte ich das mit einem "Na ja, warte mal, so ganz stimmt das nicht" in den WG-Küchen wieder abgeben?

Gerade jetzt, als Toni, Alisha und ich mit dem Rest der zweiten Flasche nun auch die überbleibenden Frustrationen rauslassen, die neuen und alten Erlebnisse auf den Tisch kotzen, und die schlechten Gefühle ebenso mit dem Rosé runterkippen, fühle ich mich als Komplize. Ich habe meine Erlebnisse damals schließlich klein geredet. Weil ich so dankbar war, dass es hier besser war als in der Heimat, oder an anderen Orten der Welt, auch wenn das besser in diesen Momenten weit weg von gut war. Ich hatte das Zepter von Zeus bekommen, warum sollte ich das mit einem "Na ja, warte mal, so ganz stimmt das nicht" in den WG-Küchen wieder abgeben, und mir und anderen die Scheuklappen abnehmen? Für eine Weile habe ich das weit von mir weggeschoben. Jetzt mit den beiden fällt mir auf, dass die Situation noch nie anders war als heute. Es sind Momentaufnahmen aus unseren Leben, die wir am Tisch besprechen, aber keine Einzelfälle, keine Ausnahmen, das wissen wir alle, denn sie passieren uns, seitdem wir hier leben, so wie Minderheiten überall in Berlin.

"Ich kann das einfach nicht nachvollziehen. Warum greifen Menschen eigentlich immer noch andere an, nur weil die eben anders sind? Das macht für mich einfach keinen Sinn. Wie kann das denn besser werden?", fragt Toni mit dem letzten Schluck der Flasche auf den Lippen jetzt ernüchtert. "Irgendwie muss das ja besser werden", schüttelt sie ihren Kopf.
"Vielleicht mit der neuen Flasche Wein?", antwortet Alisha mit extra viel Singsang in der Stimme und weil sie der Situation die Schwere nehmen will, springt sie nun mit derselben Energie, die Toni am Anfang unseres Abends hatte, leichtfüßig nach oben, packt uns beide auflockernd an den Schultern, und verschwindet im Weinladen.
"Ich glaube, wir dürfen uns nicht in diese Ohnmacht fallen lassen", sage ich, alleine mit Toni zurückgelassen, obwohl ich auch nicht weiß, wie man gegen die antritt. "Aber ja," sage ich dann deswegen weiter. "Vielleicht müsste es an Schulen in Zukunft zu solchen Themen eben doch ein Fach geben. In dem schaut man dann zusammen Folgen von Queer Eye an, und in der Klausur wird danach abgefragt, was ein French Tuck ist. Na ja, und was Nächstenliebe bedeutet."
Jetzt grinst Toni wieder, und Alisha kommt freudig mit der dritten Flasche um die Ecke.
"Leute …", sagt sie, während sie unsere Gläser bis zum Rand füllt. "Das Wichtigste ist doch, dass wir in unserem Kreis darüber reden. Und dass ich euch habe." Toni schnauft durch.
"Das stimmt, Alisha", sage ich. Es ist wichtig, dass wir darüber reden, aber, denke ich: Nicht nur in unserem Kreis. Ich glaube, wir müssen unseren Stimmen ab jetzt oder weiterhin überall Gehör verschaffen, wo es nur geht. Ob in der verrauchten Kneipe um die Ecke, auf einer WG-Party oder auf Demos. Wir müssen uns und anderen die Scheuklappen abnehmen. Betonen, dass wir nicht im Olymp angekommen sind. Bei weitem nicht. Und das hier – das ist mein Anfang. Einer, der sagen will: Berlin ist oft nicht offen, bunt und tolerant. Lasst uns diese zum Satz gewordene Merkel-Raute bitte endlich in die Tonne werfen, und stattdessen ehrlich reden, und zuhören. Genau so wie eben, wie unter Freund*innen.

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