Warum ich zugezogene Dorfkinder insgeheim beneide

© Charlott Tornow

Ich war vielleicht sechs Jahre alt, als ich mit meiner Mutter die Chausseestraße entlang lief und uns ein heftiger Wind um die Ohren blies. Der Wind fegte über das ehemalige Stadion der Weltjugend hinweg und erschwerte das Laufen dermaßen, dass ich fast waagerecht über die Straße taumeln musste. In diesem Moment nahm ich die Umgebung das erste Mal bewusst wahr. Die riesige Freifläche, auf der einst Leistungssport betrieben wurde, die gegenüberliegende Ruine einer ehemaligen Schuhfabrik, der schon etliche Fenster fehlten, das omnipräsente Grau in die Jahre gekommener, vereinzelt entlang der Straße stehender Altbauten, das trotz seiner Tristesse eine eigenartige Magie ausstrahlte...

Es ist eins dieser Bilder, die sich nachhaltig in mein Gedächtnis eingebrannt haben und sich heute nur noch durch alte Fotografien auffrischen lassen. Der Kiez selbst, der mittlerweile meine Heimat ist, hat sich radikal verändert. Der BND, der auf die Ruinen des Stadions gebaut wurde, steht kurz vor der Fertigstellung, die alte Schuhfabrik ist längst das Herzstück einer Luxus-Wohnsiedlung geworden, in kleinere Lücken wurden Prestigebauten wie das erste europäische Appartementhaus von Daniel Libeskind gepflanzt.

Berlin erfindet sich alle paar Jahre neu

Es gibt kaum eine Stadt, die sich so radikal wandelt wie Berlin – und das seit mehreren Jahrzehnten schon. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sich für die Generation meiner Eltern und meiner (mittlerweile verstobenen) Großeltern anfühlen mag und mochte, Berlin alle paar Jahre neu kennenzulernen. Mir hat der radikale Gentrifizierungsprozess der letzten Jahre schon arg zugesetzt.

Das soll kein Klagen über eine sich stetig verändernde Stadt sein. Es ist schließlich unheimlich spannend zu sehen, was alles neu passiert, wie sich Kieze entwickeln und aufblühen, doch es ist auch schade und macht mich ein wenig traurig. Es macht mich traurig, die Orte meine Kindheit nicht mehr sehen und erleben zu können. Und es macht mich neidisch. Neidisch auf die Menschen, die Berlin für sich als Lebensmittelpunkt gefunden haben, aber immer einen Exit, einen Fluchtweg haben.

Es macht mich traurig, die Orte meine Kindheit nicht mehr sehen und erleben zu können.

Das ist natürlich romantisierende Schwafelei

Ja, ich gebe es zu, insgeheim beneide ich zugezogene Dorfkinder. Sie können die Stadt nach Belieben verändern und mitgestalten und haben sie doch einmal Sehnsucht, fahren sie Heim, dahin zurück, wo sie herkommen, wo ihre Elternhäuser auf sie warten, wo Luigi noch immer jeden Sommer sein Eis an die Kinder verkauft, das Lieblingsrestaurant an die 60er-Jahre erinnert und selbst das elendige Schlagloch auf der Hauptstraße noch immer seinen festen Platz hat.

Das ist natürlich romantisierende Schwafelei, auch auf dem Land ist nicht alles Gold, was glänzt. Und ich habe auch schon mehr als eine Person getroffen, die ihre Flucht mit unerträglicher Resignation, engstirnigem Konservatismus und schlimmer Perspektivlosigkeit begründete. Dennoch will es mir nicht aus dem Kopf gehen, dass es doch schön wäre, wäre ein Teil des kindlichen Berlins, das ich erlebt und aufgesogen habe, irgendwo im Stadtbild konserviert wäre. Ein Viertel, in dem mich alles an mein sechsjähriges Ich erinnert, an den Moment, der sich in meinen Kopf eingebrannt hat, damals als ich gegen den Wind kämpfte.

Ja, ich gebe es zu, insgeheim beneide ich zugezogene Dorfkinder. Sie können die Stadt nach Belieben verändern und mitgestalten und haben sie doch einmal Sehnsucht, fahren sie Heim, dahin zurück, wo sie herkommen.
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