Wovor läufst du weg?

© Hella Wittenberg

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, unscheinbaren Rätseln des Alltags. In dieser Folge fragt sie sich, wie man am schnellsten vor sich selbst wegläuft.

Ich gehe zum Sport. Das tue ich jeden Tag, um nicht verrückt zu werden. Manchmal hilft es. Ich mache gerne die Kurse. Irgendwann, wenn man ein paar Mal bei jedem Kurs war, hat jeder seinen Platz im Raum und seine Rolle – die Streberin, die Verwirrte, die mit der Rechts-Links-Schwäche. Ich bin eine Mischung aus allem und meistens zu spät. Deshalb stehe ich auch immer in der ersten Reihe, da will keine von uns so gerne hin. Man denkt, da vorne sieht einen jeder, aber das stimmt nicht. Jeder schaut nur auf sich, auch in der letzten Reihe, das ist nicht anders als im wahren Leben.

Aerobic mit Luzie

Heute ist Aerobic. Ein paar Plätze rechts von mir turnt eine, die ein bisschen verrückt ist. Das glaube ich zumindest, weil manchmal schaue ich doch nicht nur auf mich, sondern auch auf sie. Sie sieht ein bisschen aus wie eine Mischung aus Blondie, Donatella Versace und einem Lederkoffer. Ihre Haut hat ganz viele feine Falten und ist goldbraun, ihre Haare stehen blondiert und strohig unter einem türkisfarbenen Schweißband hervor. Ihre Augen sind großräumig mit schwarzem Kajal umrandet, der gleich durch Anstrengung bis an die Schläfen verwischen wird. Ihr Blick ist ein bisschen abwesend und wirkt seltsam nach innen gekehrt. Gleichzeitig strahlt ihr lose an ihr herabhängender Körper eine überraschende Wachheit aus. In den 70ern war sie vielleicht ein ziemliches It-Girl oder Imbiss-Besitzerin oder Wahrsagerin. Es würde mich nicht wundern, wenn sie sich gleich nebenher noch eine Kippe anzündet. Eine andere Mitturnerin kommt herein und sagt „Hallo Luzie!“ und Luzie nickt. Ich mag, dass sie Luzie heißt und nicht Lucy oder Priscilla oder eben Donatella.

Jeder schaut nur auf sich, auch in der letzten Reihe, das ist nicht anders als im wahren Leben.

Die Stunde geht los, wir beginnen mit dem Aufwärmen. Luzie macht jede Bewegung sehr schwungvoll und falsch. Es sieht richtig bescheuert aus. Wir anderen tanzen synchron wie die Marionetten vor der Spiegelwand zu den Instruktionen der Trainerin, die zu gleichen Teilen aus Muskeln und atmungsaktiver Funktionskleidung besteht. Luzie rudert ihre eigene Choreografie in die Luft, wild und unbeirrt. Ihr Blick ähnelt einem Taxifahrer, der gerade mit 15 Kilo Kokain im Kofferraum von der Polizei durch Manhattan gejagt wird. Es läuft irgendein schlimmer House-Remix von irgendeinem schlimmen House-Song. Wir machen einen Ausfallschritt zur Seite, Luzie springt in die Hocke. Sie duckt sich weg im Kugelhagel, kauert, verharrt, atmet schwer, aber lautlos, bis die Luft wieder rein ist. Ihre wirre Mähne hängt ihr tief ins Gesicht, ihre knochigen Arme glänzen vor Schweiß.

Wir setzen an zu einer Schrittkombination, Luzie zerhackt die Luft mit ihren Handkanten in kleine Scheiben, wehrt Angreifer ab, streckt sie mit einem gezielten Schlag in die Leber zu Boden. Einer packt sie bei den Haaren, doch sie reißt sich los und gibt ihm einen festen Tritt. Sie rafft ihre Beute zusammen und türmt flink wie eine Katze durch die rußschwarzen Häuserschluchten. In einem schattigen Hauseingang atmet sie kurz durch und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann setzt sie an zu einem letzten Sprint und landet zusammen mit uns bei einer letzten Runde Kniebeugen, als wären wir eine öffentliche Sportgruppe im Central Park, in deren Schutz sie sich vor ihren Verfolgern tarnt.

Ihr Blick ähnelt einem Taxifahrer, der gerade mit 15 Kilo Kokain im Kofferraum von der Polizei durch Manhattan gejagt wird.

Wir keuchen, die Stunde ist zu Ende. Luzie sieht ziemlich fertig aus, ihr Haar klebt feucht an den Schläfen. Aber ihr Blick ist immer noch wachsam. Für heute hat sie es geschafft. Nach dem Duschen sehe ich sie draußen, wie sie sich mit schmalen Fingern eine Zigarette anzündet. Morgen kommt sie wieder, für die nächste Verfolgungsjagd. Genau wie ich. Und ich frage mich manchmal, ob es nicht gesünder ist, seiner ganzen Verrücktheit einfach ihren Lauf zu lassen, statt ihr ständig davonzulaufen. Seine eigenen Ängste, Blockaden, Tiefen mitnehmen, ihnen genauso viel Platz einzuräumen wie jeder anderen Eigenschaft. Sich arrangieren mit sich, lernen, sich auszuhalten, sich auch im Dunkeln zu ertragen und seine Verantwortung dafür nicht auszulagern unter's Bett, zu Monstern und Müttern. Nein, Weglaufen ist nicht die Lösung. Morgen ist übrigens Cycling, mit dem Rad ist man eh schneller.

Nein, Weglaufen ist nicht die Lösung. Morgen ist übrigens Cycling, mit dem Rad ist man eh schneller.
Zurück zur Startseite