Wo ist das Sommergefühl von früher hin?

In ihrer Kolumne stellt Ilona Fragen ans seltsame Leben. Zum Beispiel, ob es ab jetzt nur noch bergab geht. Mit dem Sommer und einem selbst und überhaupt – oder die Erinnerung an früher nicht auch ein Zukunfsentwurf sein kann.

Ich wollte gar keinen Text über den Sommer schreiben, wirklich nicht. Das ist banal, fast beleidigend einfach, es wurde alles gesagt, schon vor Jahren und überhaupt gibt es Wichtigeres. Aber dann war da ein markierter Tag im Kalender, der Geburtstag einer alten Freundin mitten im August und dann kamen nach und nach die Bilder und Erinnerungen zurück und dann der Rest und dazu der Text und jetzt ist er eben da. Aufgetaucht wie ein warmer Tag zwischen vielen kühlen, am besten man lässt sich einfach darauf ein.

Der erste Sommer, der keiner mehr war

Denn dieser Sommer ist so unbemerkt vorbeigezogen, dass ich fast darüber erschrocken bin. Hinter Bürofenstern, Autofenstern, Zugfenstern, vor Bildschirmen und unter Buchrücken. Die Sonne nur als Spiegelung auf dem Display wahrgenommen, die Wärme nur als Last, unter der sich die schwere Tasche noch schwerer trägt. Die Sonne abgewehrt mit Hüten und zusammengekniffenen Augen, der Leichtigkeit getrotzt mit Arbeit und Pflichten und einem neuen Schutzschild, das Erwachsensein oder Ernst des Lebens oder Schluss mit lustig heißt. Wenigstens noch kein Leinenhemd gekauft, wenigstens nicht vom eigenen Boot geträumt. Zum Glück schmeckt Rotwein immer noch nach altem Holz.

Nur immer dann, wenn wieder der Regen in breiten Schnüren fällt und sich anhört, als wolle er nie wieder damit aufhören wollen, bleibt kurz die dumpfe Bedrückung, steckt im Hals fest wie die neuen Tabletten gegen die neueste Allergie. Das Sommergefühl von früher, das ist weg. Da, wo sich die Zeit zwischen Juni und September wie ein einziger heißer Tag angefühlt hat, wohin ist diese Unendlichkeit verschwunden? Sind die netten Jahre vorbei, frage ich mich, werde ich ab jetzt nur noch älter, ernster, biterer, noch altklüger? Jungsein ist bald kein Zustand mehr, sondern nur noch ein Versuch. Noch ist es nicht so weit, aber ich sehe mich schon in der letzten Reihe bei Trap-Konzerten stehen, wo ich die Anspielungen nicht mehr verstehe, ohne es zu merken, und steif zu einem Rhythmus mitwippe, der sich in meinen aus 2000er Indie-Gitarren geformten Körper falsch anfühlt.

Bilder vom Sommer, früher

Neulich noch, es ist höchstens 15 oder 30 Jahre her, sind wir mit nackten Füßen quietschend über den heißen Asphalt in die Hoffeinfahrt gerannt, haben im Garten rote Johannisbeeren gegessen und ihre leeren grünen Rispen über die Gartenmauer geworfen. Auf den Tomaten im Gewächshaus liegt der feine Staub der vergangenen trockenen Tage, das Fell der Katze ist ganz warm unter den Händen, sie lag den ganzen Tag im Heu. Das Auto riecht nach warmen Auto und der raue Stoff der Sitze kratzt an den Beinen. Wir schwimmen im Teich, an den Stellen am Rand ist das Wasser eisig. Wir trocknen keuchend im Gras, mit Klee in den Kniekehlen und Algen zwischen den Zehen. Wenn die Mücken kommen, ist es Zeit, zu gehen, aber noch nicht ganz. Noch einmal kurz die Hand ins Wasser halten, noch einmal den Ball ganz hoch in den Baum schießen und natürlich kommt er doch wieder zurück. Die Haare fallen in Strähnen über die klebrige Stirn, man schläft ein und der Geruch von Sonnencreme und Fichtennadeln und Wassereis sickert von der Haut ins Kissen. Den Gewittern unter dem Dachfenster zuhören, Sekunden zählen zwischen Blitz und Donner und vergessen, was die Zahl nun eigentlich bedeutet.

Tote Mäuse und alte Menschen

Am nächsten Morgen: Waten durch schwere Luft, der Geruch von feuchter Erde steigt aus den Wiesen. Im Fernsehen läuft Sommerloch, im Radio Bailando. Später raus zu den Pferden, die in der Nachmittagssonne grasen, mit zuckenden Schweifen und Ohren gegen die Fliegen. Goldenes Licht fällt schräg über den Hügel, Grillen zerraspeln die träge Stille und Käfer die Zäune aus morschem Holz. Das erste Fallobst schon; kleine, harte, grüne Äpfel mit braunen Stellen, vom Aufprall aufgesprungen, links und rechts liegt es am Weg. Traktoren verlieren Stroh im Vorbeifahren, manchmal klebt unter den weißen Netzen der Ballen eine tote Maus und alle Menschen sind älter als ich selbst.

Bald dann wird der Sommer matt. Es riecht nach Herbst, würzig und kühl, der Wind hat gedreht, aber noch ist es nicht soweit. Streit mit den Wespen um die letzten süßen Zwetschgen am Baum und zum ersten Mal bleiben in der Nacht die Fenster zu. Ein letzter Geburtstag im Freien, bringt warme Kleidung mit, wir schlafen im Zelt. Warmer Tee aus Plastiktassen, ich bin 8 oder 12 oder 20, aber die Sommer waren immer gleich. Klar, weich und warm und einfach und normal, bis jetzt, bis heute.

Sommer heute: Bildschirmhintergrundwolken

Dieses Jahr habe ich den Sommer nur einmal gespürt, an einem Sonntag, unter einem Ahornbaum, ausgerechnet in Potsdam. Im Gegenlicht der Sonne leuchteten die Blätter grün vor dem Himmel, es gab Windows-Wolken und leichten Wind und wenn ich gekonnt hätte, ich wäre einfach dort stehen geblieben für Stunden und wäre nach und nach in den kühlen Waldboden geschmolzen. Übrig geblieben wäre nur ein Häufchen voll Kleidung, ein iPhone und ein Notizbuch, der letzte Satz, den ich aufgeschrieben hatte, war: „Text über Sommer schreiben nicht vergessen wie es früher mal war“. Ich habe getan, was ich konnte.

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