Wer die wirklich coolen Typen in der S-Bahn sind

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"Guck mal, Papa, der Mann hat auch Ringe!"

Der zarte Junge mit dem blonden Wuschelkopf bleibt abrupt im Mittelgang der S-Bahn stehen und zeigt aufgeregt in meine Richtung. Er mag vielleicht sechs Jahre alt sein. Ich lächle. Sein Vater, ein hochgewachsener Mann mit schütterem Haar, würdigt weder mich noch ihn eines Blickes. Wortlos zieht er den Kleinen weiter zu einem leeren Viererabteil.

"Hast du gesehen, Papa?" Die Stimme des Jungen überschlägt sich fast vor Aufregung. "Der hatte auch Ringe! Zwei Ringe!"

"Schrei nicht so!", mahnt der Vater scharf. Von meinem Platz aus sehe ich nur seinen Hinterkopf, aber die Ansage ist eindeutig.

Das bemerkt wohl auch der Junge. Er schlägt die Augen nieder und verschränkt die schmalen Arme vor der Brust. "Er hat aber Ringe", bekräftigt er – leiser, aber trotzig.

Von mir aus kann der sich auch die Lippen anmalen und 'n Kleid anziehen. Der ist nicht mein Sohn. Du schon. Und mein Sohn macht sowas nicht.

Der Vater beugt sich zu ihm hinüber. "Der Mann kann so viele Ringe tragen wie er will", raunt er, und ist dabei immer noch viel zu laut. "Von mir aus kann der sich auch die Lippen anmalen und 'n Kleid anziehen. Der ist nicht mein Sohn. Du schon. Und mein Sohn macht sowas nicht."

Ich spüre, wie der Ärger in mir hochsteigt. Zum Glück bist Du nicht mein Vater. Indes versinkt der Junge tiefer und tiefer in den Polstern seines Sitzes. "Aber der Ring ist doch schön", murmelt er. Erst, als er damit zu spielen anfängt, bemerke ich den schmalen silbernen Ring an der rechten Hand des Jungen.

"Ja, der ist schön", räumt der Vater ein. "Für Mädchen. Du kannst ihn ja zu Hause Karina schenken. Die freut sich."

"Aber ich hab' ihn doch für mich ausgesucht", protestiert der Kleine. Seine Stimme schwankt.

Sein Vater schnauft. "Ja. Aus der Mädchenkiste. Biste selber Schuld!"

Mädchenkiste, Jungskiste – vielleicht hatte ich einfach Glück, aber als ich klein war, gab es sowas noch nicht. Oder nicht mehr. Da bin ich fast sicher. In der Schule haben zum Geburtstag alle in dieselbe Geschenkekiste greifen dürfen. Genauso beim Zahnarzt, wenn die Belohnungen für besondere Tapferkeit verteilt wurden. Wann ist es eigentlich wieder hip geworden, zwischen Junge und Mädchen, zart und hart, rosa und blau zu unterscheiden? Warum Eltern und Pädagogen das trotz immer wieder aufkommender Debatten noch für sinnvoll oder gar notwendig halten, ist mir ein Rätsel. Dem Jungen einige Sitzreihen weiter vorn geht es wohl genauso.

Du willst doch damit nicht ernsthaft zur Schule gehen morgen!

"Du willst doch damit nicht ernsthaft zur Schule gehen morgen!", setzt der Vater nach. "Da bleibt der Fußball aber zu Hause. Kannst ja stattdessen Topmodel spielen – mit den anderen Mädchen!"

Er lässt ein gehässiges Lachen hören, während die Bahn in den S-Bahnhof Friedrichstraße einfährt. Hier muss ich raus. Im Aufstehen beschließe ich, dem Kleinen ein Kompliment für seinen Ring zu machen. Doch noch ehe ich das Viererabteil von Vater und Sohn erreicht habe, hat schon jemand aus der entgegen gesetzten Richtung den Weg zurücklegt: Ein Riese, bestimmt an die zwei Meter groß, gebaut wie ein Grizzly-Bär und von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet. Von der linken Brust seiner abgewetzten Jacke grinst ein aufgestickter Totenkopf.

"Hübscher Ring", lobt er den Kleinen. Seine Stimme klingt wie Schleifpapier. Er streckt dem Jungen die linke Hand hin, an der gleich drei klobige Goldringe mit bunten Steinen glänzen. "Ich steh' ja mehr auf Gold, aber deiner ist auch wirklich cool."

"Cool", wiederholt der Kleine. Ich weiß nicht, ob er die Ringe an der Hand des Riesen meint oder ihm einfach nachplappert, es ist wohl auch recht egal. Das Leuchten in seinen Augen sagt alles.

Während der Junge noch die Ringe bewundert, wendet der Riese seinen Blick dem Vater zu. Der schaut stur auf seine Schuhspitzen und ist plötzlich ganz still. Ein paar Augenblicke unangenehmen Schweigens verstreichen. "Schönen Tag noch", sagt der Riese dann. "Und lass dir keinen Mist erzählen, Kleiner!"

Der Vater starrt. Der Kleine strahlt. Ich zwinkere ihm nochmal zu, während ich hinter dem Riesen hergehe und aussteige.

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