Selbstmitleidiger Brillenträger, der Texte vergisst – Ein Abend mit Sven van Thom

© Clint Lukas

„Deshalb bitte ich um einen höflichen Willkommensapplaus für die selbstmitleidigste Heulsuse westlich der Neiße.“

Feixend lauschen die Zuschauer der Ansage aus dem Off. Als ihr Gastgeber kurz danach auf der Bühne erscheint, klatschen sie frenetisch Beifall. Sie kennen ihn aus dem Radio, von einer seiner zahlreichen Platten, als musikalische Hälfte der Actionlesung Tiere streicheln Menschen: „Hier ist für Sie: Sven van Thom.“

Wir treffen uns drei Stunden vorher auf dem Parkplatz der Bar jeder Vernunft. Während Sven den Kofferraum seines alten Skoda Octavia öffnet, schütteln wir uns die Hand.

„Du bist doch so ’n Mitmach-Journalist, oder?“
„Ja.“, sag ich.
„Cool. Dann kannste mal die Kiste und die Gitarre da nehmen.“

Durch den Lieferanteneingang betreten wir das Zwielicht hinter der Bühne, gehen dann durch den Vorhang nach vorn und begrüßen Beleuchter und Tonmann. Sven beginnt sofort damit, eine Loop-Station aufzubauen.

„Kann ich dir irgendwas helfen?“, frag ich.
„Nö, allet jut. Nachher vielleicht, wenn ick mir die Ansagen für die Lieder überlege.“
„Fällt dir das auch so schwer?“ Ich denke an meine Lesungen und wie mir immer vor der Anmoderation graust.
„Ja“, sagt er, spielt dann kurz ein Gitarrenriff an. „Ick hab gestern ’ne andere Show gesehen. Die Songs waren toll, super gespielt, aber das Entertainment dazwischen ging gar nicht. Nur so Sachen wie ‚Ich find’s so schön, heute hier zu sein’ oder ‚Es ist so toll, für euch zu spielen’. Find ick total eklig, wenn man so 'ne Verbindlichkeit zum Publikum herstellt. Machst du 'n bisschen weniger auf den Monitor, bitte?“, ruft er dem Tonmann zu, der direkt vor der Bühne steht und mit einem iPad sein Mischpult fernsteuert.

Find ick total eklig, wenn man so 'ne Verbindlichkeit zum Publikum herstellt.

„Und dass du dir einfach eine feste Moderation überlegst?“, schlag ich vor.
„Nein, das wäre mir peinlich. Wenn das dann jemand zweimal sieht.“

Ich halte eine Weile den Mund, damit er in Ruhe Soundcheck machen kann. Zwischendurch kommt Larissa Pesch auf die Bühne, die einige Lieder mit ihm im Duett singen wird. Als die beiden eine ziemlich mitreißende Coverversion von Rihannas „Only girl“ anstimmen, wächst meine Vorfreude auf den Abend. Die Serviceleiterin fragt, ob jemand was essen will.

„Nein, ich faste gerade“, sagt Larissa. „Aber gib mein Essen ruhig an Clint weiter.“
„Ich faste auch“, sag ich.
„Und du, Sven? Es gibt Bouletten mit Ratatouille.“
„Hm, vielleicht lieber einen Salat.“
„Okay. Ceasar’s Salad, mit Hähnchen?“
„Nö, det Grünzeug reicht mir.“

Wir sind ja ein richtiger Hedonisten-Verein, denke ich. Während Sven seine letzten Einrichtungen vornimmt, kommt Larissa zu mir und fragt, was ich für eine Diät mache.

„Trennkost“, sag ich. „Und ich trink keinen Alkohol.“
„Gar nichts?“
„Naja, Wein schon.“

Bis zum Beginn der Vorstellung sind es noch eineinhalb Stunden. Wir setzen uns in den Backstage-Raum, wo Sven eine beigefarbene Anglerweste überzieht. Ich frage ihn, wie sein Tag als bedeutender Bühnenkünstler bisher verlaufen ist.

„Hm. Ick bin so um neun aufgewacht. Hab 'n bisschen gelesen. Dann war ick einkaufen und hab was zu Essen gemacht.“

Ich nicke und schreibe eifrig mit.

„Naja, und dann hab ick 'n paar Sachen geprobt und mir 'n Kopp wegen den verdammten Ansagen gemacht.“
„Jetzt tu doch nicht so“, sagt Larissa, die sich nebenbei schminkt. „Deine Ansagen sind so gut, dass sie sogar geklaut werden.“
„Stimmt“, sagt Sven. „Ick hab heute mein Lied ‚So geht gute Laune’ gegoogelt. Das hat irgendein westdeutscher Karnevalsverein gecovert und dazu eins zu eins meine Anmoderation geklaut.“
„Ich fasse zusammen“, sag ich. „Sven wacht morgens auf und googelt sich erstmal selbst.“

Sven lacht. „Jaja, mach dich ruhig lustig.“
„Und was ist für dich der schönste Teil am Musiker-Dasein?“
„Ich würd sagen, die Mischung macht’s. Nur aufzutreten würde mich tierisch stressen. Und wenn man nur Lieder schreibt, vereinsamt man irgendwann. Am liebsten mach ich grade die Aufnahmen für Radio Eins. Die senden jede Woche ein neues Lied bei ‚Pudding mit Frisur’“.

Ich will wissen, ob es nicht manchmal nervt, immer lustig sein zu müssen.

„Nö. Ick bin gern lustig. Und wenn ick wie hier 20 Lieder oder so mache, kann ich ja auch 'n paar traurige spielen. Aber klar, die Reaktionen im Publikum sind dann insgesamt schwächer. Dafür kommen oft einzelne Leute nach der Show und bedanken sich genau dafür.“
„Also mich stört es bei meinen Lesungen, wenn die Zuschauer nur auf den großen Effekt aus sind.“

Sven nickt, zuckt mit den Schultern. „Wir hatten ja mal einen Top-10-Hit damals mit Sofaplanet: ,Lieb ficken'. Da waren wir plötzlich überall gefragt. Aber das Lied war überhaupt nicht repräsentativ für unsere Band. Auf einmal sind Leute zu unseren Konzerten gekommen, die uns gar nicht kannten. Wir haben uns dann immer für das Lied entschuldigt.“
„Habt ihr nicht mal in Betracht gezogen, noch so eins zu machen? Wo ihr doch schon so in den Medien wart.“
„Nein. Das kam gar nicht in Frage. Klar, wäre unsere Plattenfirma froh gewesen. Zu der Zeit hat man uns dann auch Beratungsresistenz bescheinigt.“

Zu der Zeit hat man uns dann auch Beratungsresistenz bescheinigt.

Er hängt die Anglerweste auf einen Hugo-Boss-Bügel und greift nach seinem Jackett. Draußen ist bereits Gläserklirren und das Raunen der ersten Zuschauer zu hören. Ich verabschiede mich auch, damit Sven und Larissa sich umziehen können. Kriege noch einen Tisch direkt vor der Bühne. An die hundert Leute sind da und es kommen ständig noch weitere. Mehr Frauen als Männer, ein paar in meinem Alter, die meisten eher um die 50. Sie bestellen Beef Stroganoff und in grünem Tee gebeizte Eismeerforelle. Wegen meiner Wein-Diät halte ich mich an Blauen Zweigelt. Zehn Minuten bis zum Anfang der Show. Der Raum ist jetzt gedrängt voll. Über Lautsprecher gemahnt mich die Stimme des seligen Otto Sander, dass ich noch eine Runde bestellen soll, weil dann bis zur Pause kein Kellner mehr kommt. Ich folge dem Rat des ehrwürdigen Meisters. Kurz darauf geht das Licht aus.

„Irgendwo sitzt vielleicht, gerade in diesem Moment, ein junger Mensch über seinen Notizen und vollendet soeben diesen einen revolutionären Gedanken, der unser aller Leben in naher Zukunft besser machen wird“, schallt eine Stimme durch den Raum. „Ein Mensch mit einer Idee, so simpel und doch so wirksam, dass sie uns unverhofft Licht ins Dunkel bringt und alles Schreckliche, wie Axtmörder oder Pokémon Go!, vergessen lassen wird.“

Nebelschwaden, ansteigende Synthesizer-Klänge.

„Leider kann dieser wunderbare Mensch heute nicht bei uns sein. Stattdessen ist alles, was Sie nun präsentiert bekommen, ein abgebrochener Brillenträger mit einem mittelmäßigen Abitur, einem mittelmäßigen Brandenburger Abitur, um genau zu sein.“

Einstudiertes Understatement in Beige

Dann kommt Sven auf die Bühne, spielt sein romantisches Lied „Erinnern zu vergessen". Der Applaus ist ganz gut und er nutzt ihn, um sein Understatement weiter auszubauen. „Ick hab mir hier 'n paar Witze aus dem Internet abgeschrieben, falls die Stimmung irgendwie kippt. Aha, ick sehe, der Tiefpunkt ist schon erreicht. Also: Was haben ein kurzsichtiger Frauenarzt und ein deutscher Schäferhund gemeinsam? Eine feuchte Nase.“

Es folgen weitere Lieder und Witze. Ich lasse meinen Blick durch die Sitzreihen schweifen und sehe freudig gebannte Gesichter.

„Kurze Frage“, adressiert er sein Publikum irgendwann. „Sind Männer hier, die gegen ihren Willen von ihrer Ollen mitgeschleppt wurden? Naja, jetzt traut ihr euch nicht zu melden. Ick hab hier jedenfalls ein Lied für euch.“

In der zweiten Strophe vergisst er dann seinen Text, geht jedoch gekonnt mit der Situation um: Liest einen Witz, reagiert auf Zwischenrufe, provoziert damit die bisher lautesten Lacher. Als ich in der Pause hinter die Bühne gehe, steht er schwitzend am Vorhang und schaut verstohlen in den Zuschauerraum.

„So still wie heute waren die noch nie. Und ich Depp hab schon wieder den Text vergessen.“
„Aber die Leute haben’s geliebt“, sag ich.
„Ach, was.“
„Doch. Die merken doch, wenn du authentisch bist.“
„Er macht sich immer so einen Kopf“, sagt Larissa, als Sven zur Kasse gegangen ist, um sich nach den Zuschauerzahlen zu erkundigen. „Dabei ist er genau dann so gut, wenn was schief geht. Er hatte auch so ’ne Panik vor dieser Radiosache. Aber jetzt macht er das so toll und wächst total über sich hinaus.“

Nach der Pause kommt Sven wieder auf die Bühne. Er trägt seine Anglerweste und von der Unsicherheit ist nichts mehr zu spüren.

Zwischen Blockflötensoli und Rap-Einlagen

„Bevor ihr fragt: Mein Jackett ist nicht durchgeschwitzt. Ich dachte nur, ich passe mein Outfit an die ganzen alten Leute hier an. Beige ist das neue Grau.“

Er spielt seine Rap-Nummer "Beige", legt sich voll ins Zeug. Danach steht ihm wirklich der Schweiß auf der Stirn und unter der Brille. Was ihn nicht davon abhält, nun einen Publikumsliebling nach dem anderen zu spielen: "Tanz den Spatz", "Polen", "Baumarkt der Liebe". Als er bei einem Blockflöten-Solo Szenenapplaus kriegt, starrt er entgeistert ins Publikum:

„Ach, Blockflöte gefällt euch jetze? Hättet ihr das nicht früher sagen können?“

Dann legt er damit ein spontanes ABBA-Medley hin und hat die Leute endgültig im Sack. Nach seinem letzten Lied brüllt das ganze Zelt nach Zugabe, die er zusammen mit Larissa bestreitet. Seine Gitarre unterstreicht perfekt ihre glasklare Stimme. Es kommt mir vor, als würden Mumford & Sons und Lana Del Rey aufeinander treffen. Aber ich hab auch schon mein viertes Glas Zweigelt im Schädel. Nach dem Auftritt eilt Sven zum Empfang, um Platten zu verkaufen. Ich frage ihn, ob er noch einen Traum hat.

Alles in allem war mein Leben noch nie so super.

„Naja, in Berlin läuft’s ja inzwischen nicht schlecht“, sagt er und signiert nebenbei einige CDs. „Das könnte auch noch in anderen Städten so laufen. Ich will nur nicht so ’ne A- oder B-Prominenz, da kann man ja nicht mehr aus dem Haus gehen.“
„Also bist du zufrieden?“
„Alles in allem war mein Leben noch nie so super.“

Vermutlich haben Wein und Musik mich sentimental gemacht. Ich freue mich jedenfalls, das zu hören. Auch, dass er für die nächste Saison schon gebucht ist. Es wird also noch viele schöne Abende mit der selbstmitleidigsten Heulsuse westlich der Neiße geben.

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