Alles sehen, nichts verpassen und kläglich scheitern – Das Berliner Kulturangebot macht mich fertig

© Sophie Bengelsdorf

Ich liege nackt auf dem blankpolierten Boden der Neuen Nationalgalerie. Der Raum ist überladen mit Kunst, ein bärtiger Mann im Lederoutfit reitet auf dem überlebensgroßen Balloon Dog von Jeff Coons und schmeißt, berauscht vom voluminösen Ufftata einer Blaskapelle, Shots in die Menge. Jedoch, und das ist natürlich nicht das Einzige, das mich in diesem Moment verwundert, steht dort keine Menge. Die Menge bin ich. Der Wodka rinnt einsam über meine entblößten Brüste, in der Ferne höre ich Menschen lachen. Ich sehe sie nicht, spüre jedoch, dass sie mich auslachen. Gehässig auslachen. Sie tragen Schwarz, schauen sich interessiert um, hören interessiert zu, diskutieren interessiert über das Dargebotene. Zu spät, ich bin mal wieder zu spät, überkommt es mich in meinem Alice im Wunderland’esken Traum. Aus dem Augenwinkel sehe ich das weiße Kaninchen durch einen Spalt aus der Tür hoppeln. Wieder einmal Kunst verpasst, wieder einmal die Menge verpasst, wieder einmal nackt und alleine.

Panik, Versagensangst, Zeitmangel: wieder einmal Kunst verpasst

In etwa so lässt sich mein Verhältnis zum Berliner Kulturkalender zusammenfassen. Panik, Versagensangst, Zeitmangel. Auf dem inneren Buffettisch stehen destillierte Getränke, Rollkragenpullover nehmen mir die Luft zum Atmen.

Jeden Tag erreichen mich über Facebook gefühlte 457 und etwa 25 tatsächliche Eventeinladungen. Und das ist nur mein Mikrokosmos. Durch die individuellen Algorithmen haben wir natürlich auch Zugang zu den Kalendern unserer virtuellen Freunde. Sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag Theater, Kabarett, die Tanzperformance einer durchmischten Gruppe aus den Karpaten, mit nur einem einzigen Termin in Berlin. Dieser Abend würde nie wieder gekommen. Dann noch Brecht mit Beats am Montag, ein DJ, den außer mir ganz Berlin kennt, am Donnerstag, Pop-up, Dine-low, bis unters Dach mit Essen gefüllte Markthallen zwischen Spandau und Marzahn, Lesungen, Hergott noch mal, alle lesen jetzt, überall, Getränkemarken launchen, Stadtbäder werden trockengelegt, Piano spielt man wieder, während wir forte von Event zu Event rennen.

Die Tanzperformance einer durchmischten Gruppe aus den Karpaten, mit nur einem einzigen Termin in Berlin. Dieser Abend würde nie wieder kommen.

Was soll ich schon verpassen?

FOMO, Fear Of Missing Out. In meinen Zwanzigern wurde ich von dieser irrationalen Angst, etwas zu verpassen, verschont. Jetzt, mit Anfang 30, holt sie mich ein. Doch man beschwichtigt sich: „Was soll ich schon verpassen?“. Ich kann mir sagen, was ich verpasse: Kulturpolitisches Theater, Schaubühne, Gorki, Heimathafen, für den ich einen Anker bräuchte, weil ich dort einfach vorbei schwämme, im Meer der Verpflichtung. Schlimmer noch: Die Fotos danach. Hübsch sehen sie aus, die Gäste. Spaß müssen sie gehabt haben. Ich sollte meinen Job kündigen und professioneller Kulturgänger werden. Die Krux der Kosmopoliten, mit einem Arsch auf fünfzehn Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Smalltalk, höflich nicken, noch höflicher klatschen, nachdenklich vor Caspar David Friedrich stehen, den ein polnischer Action-Painter in Caspar DJ Friedrich verwandelte. Ich fühle mich wie der Wanderer im Nebelmeer.

Ich sollte meinen Job kündigen und professioneller Kulturgänger werden.

Ich fühle mich übermannt vom Angebot und eingeschüchtert von der schier unendlichen Auswahl an Möglichkeiten. Regelmäßig bimmeln Nachrichten aus diversen WhatsApp-Gruppen: „Lasst uns doch dafür einen Doodle-Kalender erstellen?“, schlägt jemand vor. Der klägliche Versuch, eine Gruppe von arbeitenden Berlinern zu synchronisieren wie ein Staatsorchester. So scheitern wir an der Planung und finden meist erst dann ein Datum, wenn der Zirkus weitergezogen ist.

Dabei möchte ich alles sehen, nichts verpassen. Irgendwie muss ich System in mein Dilemma bringen: Events kategorisieren? Freunde in Interessengruppen einteilen? Klassik ja, modernes Tanztheater nein? Meine Großmutter hätte jetzt „Oy vey“ gesagt. Ich sage „Ai wei“.

Vielleicht gilt es, für Kultur ähnliche Motivation aufzubringen wie für Sport. Sport für den Geist, die Seele, den Kopf. Sich auch nach der Arbeit noch aufraffen, die Lippen nachziehen und sich so lange in Pina Bauschs Tanztheater schmeißen, bis die Augen bluten. Vielleicht ergibt es Sinn, das vermeintlich sinnbefreite Projekt eines noch unbekannten Künstlers mit bloßer Präsenz zu unterstützen? Vielleicht muss man das alles wahrnehmen, sich des Glücks bewusster werden, in einer Stadt mit ebendiesem Angebot zu leben, in der ich es tue. Nicht mehr an der Menge zu scheitern. An der Menge des Angebots und an der Menge der Freunde, die man nicht unter einen Hut bekommt.

Die Lösung, ein Fünf-Punkte-Plan?

1) Finde einen Kulturpartner. Zu zweit ist man weniger allein. Blutsbrüderschaft in der Topographie des Terrors schließen. Gute Idee.

2) Einen Wandkalender aufhängen, Events eintragen, die man besuchen möchte. Funktioniert ähnlich wie das Modelfoto am Kühlschrank. Maximale Konfrontation.

3) Scheiß auf den Kulturpartner. Alleine muss man weniger planen. Zumal sich auf Aufstellungen, in Museen und im Theater die Männer und Frauen rumtreiben, die wir auf Tinder vermissen.

4) Abonnements. Für die Philharmonie, für alle Berliner Museen. Wer einen Jahresbeitrag zahlt, ist eher geneigt, das Angebot in Anspruch zu nehmen. Wie eine BVG-Monatskarte, nur fürs Hirn.

5) Wir nähern uns mit großem Schritten der Zeit der Vorsätze. Da ich mich an Sport erst gar nicht mehr rantraue, nehme ich mir nächstes Jahr einfach ganz bewusst Kultur vor. Denn Bewusstsein für das Glück des Angebots ist doch ein schöner Vorsatz.

Oder?

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