REISEVERGNÜGEN – Reise ins Tal der Tarahumara
Im Süden Mexikos saß ich am Straßenrand und wartete. Ich war mal wieder per Anhalter unterwegs. Es war verdammt heiß und das imaginäre Thermometer stieg auf gefühlte 50 Grad im Schatten. Einzig und allein kühles Bier schien mir diese unerträgliche Hitze erträglich zu machen. Ich dachte gerade darüber nach, mir ein zweites zu besorgen, als ein Wohnwagen hielt. Ein weißbärtiger Mexikaner lud mich in sein klappriges Gefährt. Als ob der Mann gewusst hätte, dass ich mal wieder auf der Suche nach neuen Reisezielen bin, begann er ungefragt damit, mir Geschichten über die Ureinwohner Nordmexikos zu erzählen, den legendären Tarahumara. Noch immer würden sie in Höhlen leben, die Männer tragen farbenfrohe Hosenröcke und seien ganz nebenbei die besten Langstreckenläufer der Welt.
Mit großen Ohren lauschte ich seinen Erzählungen und kritzelte eifrig Notizen in mein Heftchen. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich kurz vor den Ruinen von Calakmul, einer im Urwald gelegenen Tempelanlage im Südwesten des riesigen Landes. Was also die Entfernung zu den Tarahumara anging, so hätte ich ebenso gut nach Kolumbien fahren können. Aber das war egal. Ich hatte Zeit. Mein nächstes Ziel stand fest. Nachdem ich die geheimnisvollen Ruinen Calakmuls erkundet hatte, machte ich mich auf den Weg in den Nordwesten Mexikos. Dort, wo eines der ursprünglichsten indigenen Völker des Landes lebt. Teils zurückgezogen in versteckten Tälern, teils auf weit entfernten Hochplateaus.
Viele rieten mir davon ab, in den Norden zu fahren. Zu gefährlich wäre es. Drogenkriege und Entführungen seien an der Tagesordnung. Ich kaufte mir trotzdem ein Ticket, fuhr zwei Tage am Stück in Bussen und kam 3000 Kilometer später in der Wüstenstadt Chihuahua an. Dort stieg ich in den berühmtesten Zug Mexikos, genannt „el Chepe“, ein. Vor mir lag eine der spektakulärsten Eisenbahnstrecken der Welt. Auf seiner 650 Kilometer langen Reise schlängelt sich dieser Bummelzug durch wilde Schluchten und endlose Tunnel. Dabei überwindet er einen Höhenunterschied von 2400 Metern. Spektakulär! Während draußen die atemberaubenden Landschaften vorbeizogen, schlief ich ein! Dieses monotone Tuckern im gemächlichen Tempo der Trödeleisenbahn raffte mich dahin.
Per Anhalter durch die Berge Nordmexikos
Mitten im Nirgendwo erwachte ich. In Creel, einem öden Westerndorf mit einem kleinen Bahnhof und ein paar Häusern, traf ich auf Mehmet aus der Türkei. Genau wie ich reiste er mit einer Fotokamera in der Hand um die Welt. Ich erzählte ihm von meiner Suche nach mexikanischen Ureinwohnern und da wir uns blendend verstanden, beschlossen wir, von nun an gemeinsam weiterzureisen. Per Anhalter versteht sich.
Oft stundenlanges Warten am Straßenrand
Die Tarahumara leben so zurückgezogen, dass wir in unserer kurzen Zeit lediglich eines ihrer Dörfer ausfindig machen konnten. Weil diese Menschen Fremden gegenüber oft sehr schüchtern sind, tasteten wir uns vorsichtig heran. Als das Dorf nach einem stundenlangen Fußmarsch endlich in Sichtweite lag, setzten wir uns deshalb erst einmal in den Schatten eines Baumes. Einige der Dorfbewohner schauten neugierig in unsere Richtung. Der Anfang war getan. Irgendwann liefen wir zu ihnen hinüber. Der erste Kontakt. Wir trafen auf eine junge Mutter mit ihrem Kind. Sie war höchstens 16 Jahre alt und gerade dabei, Tortillas zuzubereiten.
Junge Mutter mit KindHauptnahrungsquelle Tortillas
Da die Tarahumara kein Spanisch sprechen, blieb uns nur noch die stets lustige Kommunikation mit Händen und Gesten und Lächeln, was wie immer bestens funktionierte. Nach einer Weile kam ein Mann auf uns zu. Er stellte sich als „Lirio“ vor, das Dorfoberhaupt. Er konnte ein wenig Spanisch und so setzten wir uns, aßen Tortillas und plauderten ein wenig.
Lirio wusste nicht genau, wie alt er ist. 'Irgendwann vor langer Zeit' sei er geboren.
Lirio wusste nicht genau, wie alt er ist. „Irgendwann vor langer Zeit“ sei er geboren. Als ich ihm erzählte, dass ich aus Deutschland komme, konnte er damit nur sehr wenig anfangen. Er kannte dieses Land nicht. Auch von Europa habe er noch nie zuvor gehört. Also sprachen wir über das Leben, das Dorf und die Tortillas.
Eine andere faszinierende Welt
Die Tarahumara leben in sehr ärmlichen Verhältnissen. Die Zeit im Dorf scheint stehengeblieben zu sein. In ihren Häusern, die aus Lehm und Stein gebaut sind, schlafen sie auf dem blanken Fußboden – für Lirio die normalste Sache der Welt. Über Rückenbeschwerden beklagte er sich jedenfalls nicht. Im Dorf gibt es weder Strom noch irgendwelche anderen technischen Errungenschaften der "modernen" Welt. Hauptnahrungsquelle ist Mais. Dieser wird zu Tortillas verarbeitet und als solches tagtäglich verspeist. Alles was die Tarahumara zum Leben brauchen, bauen oder fertigen sie mehr oder weniger selbst an. Geld benutzen und brauchen sie nicht. Mit umliegenden Dörfern findet Tauschhandel statt.
Eine andere Welt. Eine faszinierende Welt! Nach gut drei Stunden und sieben Tortillas nahmen wir von ihr Abschied. Es war die mit Abstand intensivste Begegnung seit langer Zeit. Und allem Anschein nach teilten wir alle diesen Eindruck. Denn als wir uns allmählich vom Dorf entfernten, schauten uns einige der Dorfbewohner noch lange hinterher. So lange, bis sich unsere Blicke an irgendeiner Kurve verloren.
Mädchen beim Wäsche waschenJuana (15) mit ihrem SohnEin Angehöriger eines anderen Stammes/Dorfes
Fotos und Text: © Lars Lindborg