DAS LEBEN DER ANDEREN #18 – Gewinnen und verlieren mit Jockey Dennis Schiergen

Ostersonntag, 15.39 Uhr. Ich stehe allein im Innenring der Galopprennbahn Hoppegarten. Gegenüber auf den Tribünen springen gerade 8.000 Menschen brüllend von ihren Plätzen auf, wedeln wie wild mit den Rennprogrammen. Die Lautsprecherstimme des Kommentators hallt immer schneller und lauter über den Platz, als die Reiter sich in die letzte Kurve legen.

Ich starre gebannt auf Pferd Nummer 1, das sich tapfer an dritter Stelle hält. Auf seinem Rücken: Dennis Schiergen, der Mann, mit dem ich gerade noch so nett in der Presselounge gequatscht habe. Eingekeilt von den anderen Reitern schießt er mit sechzig, siebzig Sachen dahin, als sich plötzlich eine Lücke vor ihm auftut. Ich kann kaum hinsehen: Eine falsche Bewegung und er wird sich und dem Pferd den Hals brechen. Außerdem hab ich zehn Euro auf Sieg gesetzt.

Als ich um halb eins die Jockeystube betrete, liegt Dennis noch auf einer Liege und wird vom Physiotherapeuten massiert. Ich gehe also zurück in die Presselounge, wo die echten Journalisten Insider-Witze reißen und das Buffet in die Mangel nehmen. Aus dem Fernseher dröhnt eine Höffner-Werbung in Dauerschleife.

21 Jahre, 58kg, 1,74 Meter, 1.200 Rennen

Nach zehn Minuten erscheint Dennis im rot-weißen Dress. Schwarze Stiefel, strahlendes Lächeln. Mit 1,74 für einen Jockey relativ groß.
„Du siehst müde aus“, sag ich
„Ach, alles gut.“ Er winkt ab. „Ich hatte gestern einen Ritt in Düsseldorf. Bin gerade erst mit dem Flieger gekommen. Und die Uhren wurden ja vorgestellt.“

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„Hattest du dann überhaupt Zeit dich vorzubereiten?“
„Ich war kurz auf der Bahn und hab geschaut, wie der Boden ist.“
„Und warst du schon bei den Pferden?“
„Nein, die sehe ich erst im Führring. Wie alle anderen auch.“

Wir setzen uns an einen Tisch, wo ich meine vorbereiteten Notizen ausbreite. Mit Pferderennen hatte ich bisher nur durch Bukowski zu tun. Obwohl er nachher noch reiten muss, wirkt Dennis wesentlich entspannter als ich. Liegt vielleicht daran, dass er schon mehr als 1.200 Rennen hinter sich hat. Er ist 21.

Die Chemie zwischen Jockey und Pferd

„Wie ist das mit der Chemie zwischen Jockey und Pferd?“, fange ich an. „Kommt es vor, dass du ein Pferd ablehnen musst, weil ihr euch nicht versteht?“
„Nein. Ein Jockey muss sich auf jedes Pferd einlassen können. Das ist sein Job. Und im besten Fall kenne ich ein Pferd auch schon von früheren Ritten.“
„Und wenn nicht? Woher weißt du, wie es sich verhalten wird?“
„Ich schaue mir die Replays von seinen letzten Rennen an.“
„Und wenn das Pferd noch nie ein Rennen hatte?“
„Dann kann man sich den Stammbaum anschauen. Wie sind Mutter und Vater gelaufen? Wie laufen die Geschwister? Es gibt immer ein paar Indizien. Den Rest muss man instinktiv im Rennen herausfinden.“

Ich will gerade weiter bohren, da wird er nach unten zum Wiegen gerufen. Ich nutze die Zeit, um am Toto-Schalter meine Wetten zu platzieren: Dennis hat drei Ritte, ich setze jeweils zehn Euro auf Sieg. Als wir uns wieder treffen, sagt er, dass sein erstes Rennen gestrichen ist.

Ich kann kaum hinsehen: Eine falsche Bewegung und er wird sich und dem Pferd den Hals brechen.

„Das Pferd hat ein geschwollenes Bein. Der Besitzer will kein Risiko eingehen.“
„Kommt sowas oft vor?“
„Nein. Nicht so kurz vor dem Rennen. Ist mir erst zwei oder dreimal passiert. Das Pferd muss sich beim Liegen irgendwie selbst verletzt haben. Aber so haben wir noch ein bisschen Zeit.“ Ich frage, wie er bezahlt wird. Ob es für ihn nur die Preisgelder gibt.
„Ich stelle Rechnung beim jeweiligen Trainer.“
„Also bist du selbstständig?“
„Ja. Dazu kommen noch 5% von den Preisgeldern als Prämie.“
„Und wie kommt das Arbeitsverhältnis zustande? Bewirbst du dich für ein Rennen?“
„Das ist unterschiedlich. Manchmal gehe ich auf die Trainer zu, manchmal umgekehrt. Oder der Besitzer bucht mich direkt. BOSCACCIO zum Beispiel, mein nächster Ritt: Der hatte erst ein Rennen. Das war mit mir und wurde ein Sieg. Natürlich war ich dann für das Folgerennen heute die erste Wahl.“

Respekt, Adrenalin, Risiko und Leidenschaft 

Während wir zum Führring gehen, steigt eine Maschine aus Schönefeld über uns in den Himmel. Das Publikum drängt sich an den Zäunen, um einen Blick auf die Pferde zu werfen. Ich folge Dennis in die Mitte des Rings und beobachte nervös die riesigen Tiere, die uns umkreisen.

„Wie ist das mit der Verletzungsgefahr?“, frage ich. „Wie vorsichtig musst du sein? Und wie mutig?“
„Man muss schon Respekt davor haben, was man da macht.“ Im August 2015 ist er bei einem Rennen in Baden Baden gestürzt und fiel für den Rest der Saison aus. „Aber da hab ich mir nur die Hand gebrochen, das war nicht so wild. Ich habe Kollegen, die sitzen im Rollstuhl oder haben Platten im Schädel.“

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„Hat man nach so einem Sturz nicht Angst, wieder aufs Pferd zu steigen?“
„Dann muss man es lassen. Angst kann gefährlich sein. Wenn ich als Zweiter stürze, sind hinter mir noch sechs, sieben andere, die dann über mich stürzen können. Man trägt auch Verantwortung für die anderen Reiter.“

In dem Moment wird eine Glocke geläutet. Das Zeichen für die Jockeys, aufzusitzen. Dennis schwingt sich auf BOSCACCIO und wirkt jetzt sehr konzentriert. Ich folge ihm zur Rennbahn, darauf bedacht, nicht zwischen die Hufe zu geraten. Während er zur Startmaschine auf der anderen Seite der Bahn galoppiert, beziehe ich Stellung im Innenring. Auf der Videoleinwand sehe ich, wie schwierig es ist, die Pferde in ihre Boxen zu schieben. Die zuständigen Männer tragen mehr Panzerung als ein Riot-Cop am 1. Mai. Als das letzte Pferd drin ist, springen die vorderen Türen auf und das Rennen beginnt.

Ich habe Kollegen, die sitzen im Rollstuhl oder haben Platten im Schädel.

Dennis Schiergen

Dennis wird nach dem Start abgedrängt, kämpft sich auf der Gegengerade auf den dritten Platz vor. Die sechs Reiter sind bedrohlich nah beieinander. Sollte einer von ihnen die Kontrolle verlieren, würden mit Sicherheit alle stürzen. Mein Puls hat sich längst beschleunigt, ich bin endgültig angefixt. Da driftet das führende Pferd in der letzten Kurve für eine Sekunde nach außen und Dennis nutzt instinktiv die Gelegenheit: BOSCACCIO macht einen Satz, lässt LA DUMA und DIGITALIS hinter sich, beschleunigt nochmal auf der Zielgeraden und gewinnt mit vier Längen Vorsprung.

Ich stehe auf Höhe der Linie und sehe, wie Dennis sich freut. Es war ein wichtiges Rennen für ihn. Auch ich freue mich und löse meine Wettscheine ein. Kriege die zehn Euro aus dem gestrichenen Rennen zurück, plus neunzehn Euro aus dem gewonnenen. Die Quote ist relativ niedrig, weil BOSCACCIO der Favorit war. Trotzdem gebe ich der Fotografin und mir ein Bier aus.

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„Wie bist du eigentlich Jockey geworden?“, frage ich nach der Preisverleihung. Noch immer drängen sich Leute aus dem Publikum durch und klopfen ihm auf die Schulter.
„Ich habe schon auf dem Pferd gesessen, bevor ich laufen konnte“, sagt er. „Und mein Vater hat uns früh ein Rennpony geschenkt. Seitdem wollte ich nichts anderes, als reiten.“

Er nimmt die auf ihn einprasselnden Glückwünsche mit dem immer gleichen, fröhlichen Lächeln entgegen. Ich frage mich, ob er auch so gefeiert wird, wenn er nicht gewinnt. Immerhin riskiert er bei jedem Rennen seinen Hals.

„Und ist das dein Traum?“, frage ich. „Profi-Jockey zu bleiben?“
„Ja. Aber ich studiere auch. Eventmanagement. Als Sportler sollte man immer ein zweites Standbein haben. Man weiß ja nie, was passiert.“

Als Sportler sollte man immer ein zweites Standbein haben. Man weiß ja nie, was passiert.

Dennis Schiergen

Ich schaue zu, wie er für sein letztes Rennen gewogen wird: 58 kg mit Sattel und Gewichten. „Ist es schwer, dein Gewicht zu halten?“, frag ich.
„Naja, man muss schon auf seine Ernährung achten. Und dann geht es oft um kurzfristigen Gewichtsverlust. Vor den Rennen laufe ich viel mit dem Sauna-Anzug. Wasser verliert man am schnellsten.“
„Hast du denn eigentlich sowas wie Freizeit?“
„Ja, klar“, sagt er. „Im Winter natürlich mehr. Da sind nur einmal die Woche Rennen.“

Er bemerkt meinen Blick und fügt hinzu: „Ich geh schon manchmal feiern. Aber eher in der Nebensaison. In der Hauptsaison muss ich mich auf die großen Rennen konzentrieren.“
„Und wie ist dein Gefühl für den letzten Ritt heute?“
„Gut, gut. SONGAN ist das, was wir ein schlaues Pferd nennen. Der will nur einmal nach vorn kommen. Wenn er mal erster war, ist es für ihn gelaufen. Also muss ich schauen, dass er genau auf der Linie Erster wird.“

Aber SONGAN legt an diesem Tag überhaupt keinen Wert darauf, vorn zu liegen. Oder die anderen sind viel besser. Ich zerreiße meinen Wettschein. Diesmal muss die Fotografin mich auf ein Bier einladen. Trotzdem möchte ich Dennis gern gratulieren. Er hat es wieder mal heil ins Ziel geschafft. Doch auf dem Weg Richtung Jockeystube kommt er mir schon mit Koffer entgegen. Wir schütteln uns hastig die Hand.
„Ich muss zum Flughafen“, ruft er. „Hab morgen ein Rennen in Köln.“
„Hals und Bein“, ruf ich zurück, doch er hört mich nicht mehr.

Ich nippe an meinem Bier, werfe einen Blick in die Brieftasche: Wie es aussieht, gehe ich unterm Strich mit minus einem Euro nach Hause. Bukowski würde sagen: Kein übler Schnitt.


Beim letzten Mal hat Clint einem Koch beim braten und koksen zugesehen.

Fotos: © Katharina Mau

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