"Die hat doch einen an der Klatsche!" – Warum wir psychische Krankheiten endlich ernst nehmen sollten

Xavier Sotomayor I unsplash.com

von Anna Linds

Ich kann es einfach nicht fassen. Kann es wirklich sein, dass es Menschen gibt, die immer noch nicht begriffen haben, dass psychische Erkrankungen schlicht und ergreifend Krankheiten sind?! Wie bitte kommen diese Ersthelfer dazu, so herablassend aufzutreten? Diese Menschen, von denen ich am allermeisten Empathie und Mitgefühl erwartet hätte, bestätigen mir meine Befürchtung: In Bezug auf Krankheiten gibt es in den Köpfen der meisten Menschen immer noch zwei Kategorien: echte und eingebildete.

Menschen rufen den Krankenwagen nicht aus Langeweile, sondern weil sie große Angst haben.

Jetzt habe ich also diese junge Frau vor mir. Sie zittert, hyperventiliert, weint und schlägt um sich. Sie hat wahnsinnige Angst, weil sie nicht weiß, was mit ihr passiert. Und sie bittet um Hilfe. Also rufe ich einen Krankenwagen für sie. Eine kleine Ewigkeit vergeht, bis die Rettungskräfte eintreffen.

Und die reagieren scheiße. Kein bisschen einfühlsam. Kein bisschen zugewandt. Keine Menschlichkeit, keine Hilfsbereitschaft, nicht einmal Bereitschaft, richtig zuzuhören, geht von ihnen aus. Die von der jungen Frau erbetene aktive Hilfe kommt nicht zustande. Die Rettungskräfte schauen sich ihre Patientin nicht einmal genauer an. Stattdessen stellen sie komische Fragen von oben herab, denn die junge Frau liegt auf dem Boden. Nicht ein einziges Mal wird die Frage gestellt, wie sie sich fühlt. Mir ist klar, dass Sanitäter und Rettungsassistenten für lebensbedrohliche Situationen ausgebildet sind und auch häufig unnötig gerufen werden. Aber dennoch denke ich, dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst sein müssen. Menschen rufen den Krankenwagen nicht aus Langeweile, sondern weil sie große Angst haben. Wirklich große Angst.

Psyche und Körper lassen sich leider nicht trennen

Ich selbst habe seit über zehn Jahren regelmäßig Migräne. Eine Krankheit mit einem äußerst schlechten Ruf. Ich habe keine Ahnung, wie es dazu kommen konnte, dass eine solche Scheiß-Krankheit zur “schlechten Ausrede” degradiert wurde. Wahrscheinlich besteht ein Zusammenhang darin, dass die Betroffenen deutlich häufiger weiblich sind und man die Symptome nicht wirklich sehen kann. Aber im Grunde ist es mir auch egal. Es ist meiner Meinung nach nicht in Ordnung, dass irgendeine Erkrankung den Ruf haben sollte, dass es sich dabei nur um eine Ausrede handelt oder schlimmer, sie keine “echte” Krankheit sei. Es wird Zeit, dass wir grundsätzlich umdenken.

Migräne ist eine Krankheit mit psychosomatischer Komponente. Wie sehr viele andere Erkrankungen auch, wird sie bei schlechter psychischer Verfassung, das heißt bei Sorgen und Stress, schlimmer. Das macht die ganze Sache nochmal komplizierter. Denn es bedeutet, das man als Betroffene oder Betroffener im Grunde nur weniger Stress haben muss, damit es einem besser geht. Keinen Stress mehr zu haben, um regelmäßige Anfälle von Höllenqualen vermeiden zu können, ist echt verdammt stressig. Und aus eigener Erfahrung kann ich definitiv sagen quasi unmöglich.

Migräne ist nicht heilbar und jede und jeder Betroffene muss versuchen, seinen oder ihren eigenen Weg zu finden, mit der Krankheit umzugehen. Ich erlebe es aber leider regelmäßig, dass Kopfschmerzen und Migräne nicht wirklich ernst genommen werden. Es ist ja normal, dass Menschen von sich auf andere schließen, aber eines kann ich definitiv sagen: Wer keine Ahnung von einer Krankheit hat, sollte einfach mal den Mund halten. Nein, ich kann nicht einfach eine Schmerztablette nehmen oder viel trinken oder mal das Fenster aufmachen, damit es besser wird.

Das Unverständnis der Mitmenschen hat Einfluss auf das ganze Leben

Ich kann die Angst der Frau auf dem Boden also nachfühlen. Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn die Menschen um einen herum nicht nachvollziehen können, wie man sich fühlt. Am schlimmsten ist es, wenn genau die Menschen, die eigentlich dafür geschult sein sollten – Ärzte und medizinisches Personal –, dich nicht ernst nehmen. Ich kann nicht mehr zählen, bei wie vielen verschiedenen Ärzten der unterschiedlichsten Fachrichtungen ich war, bis ich endlich jemanden gefunden hatte, bei dem ich mich ersnt genommen fühle. Bei fast jeder Begegnung mit uneinfühlsamen Ärzten, brach ich nach dem Termin heulend zusammen. Ich fühlte mich hilflos und allein gelassen.

Vor einigen Jahren besuchte ich einen Neurologen und schilderte meine Probleme. Zu diesem Zeitpunkt ging es mir wirklich schlecht. Er musterte meinen Kopfschmerzkalender und sagte mir, es sei kein Wunder, dass ich so oft Schmerzen hätte, ich würde zu viele Medikamente gegen die Schmerzen nehmen. Ich solle doch einfach aufhören, die Akut-Medikamente gegen die Migräne zu nehmen. Ich kam mir so unendlich dumm vor. Ich war also auch noch selber schuld an meiner Misere? Durch den Stress bekam ich natürlich noch am selben Abend Migräne. Ohne das Medikament aber musste ich mich ständig übergeben und die Schmerzen waren so unerträglich, dass meine Mutter mich nachts in die Notaufnahme bringen musste.

Oft habe ich Angst, dass ich wegen der Migräne nie ein "normales" Leben werde führen können. Ich kann sie nicht heilen und so richtig in den Griff bekomme ich meine Krankheit aber auch nicht. Eine Vollzeitstelle zu haben kann ich mir zum Beispeil nicht mehr vorstellen. Ich habe in der Vergangenheit sehr viele Tage mit Migräne bei der Arbeit verbracht, halb unter dem Schreibtisch hängend, weil ich mich so elend fühlte. Aber welcher Arbeitgeber würde meinen befristeten Vertrag verlängern, wenn ich mich an circa 5 bis 7 Tagen im Monat krank melden muss? Also versuchte ich die Arbeitszeit durchzuziehen, verlängert wurde mein Vertrag trotzdem nicht.

Auch meine Beziehungen zu festen Partnern und Freunden wurden in Mitleidenschaft gezogen. Meiner Erfahrung nach fühlen viele Menschen sich sehr hilflos, wenn sie dir nicht helfen können. Eine Freundschaft ist fast zerbrochen, weil der Freund mir auf die Art helfen wollte, die er für richtig hielt: über meinen Kopf hinweg Entscheidungen für mich treffen.

Die Angst vor den Reaktionen ist allgegenwärtig

Die Angst wurde mein ständiger Begleiter. Ich habe Angst, Dinge nicht hinzubekommen im Job oder im Alltag, weil es mir immer wieder tageweise sehr schlecht geht. Ich habe Angst, eine zu große Belastung für meinen Partner zu sein oder zu viel Verständnis von meinen Freunden zu verlangen. Ich habe Angst, dass ich bei dem Versuch, meine Krankheit in den Griff zu bekommen, zu scheietrn. Ich habe Angst, dass es schlimmer wird und ich es irgendwann nicht mehr aushalten kann. Aber über diese Ängste kann ich kaum sprechen, weil ich viel zu große Angst vor den Reaktionen haben. Zu viele negative Erfahrungen brachten mich dazu, alles, was  meine Krankheit betrifft, mit mir selbst auszumachen, weil die Sorge, wie meine Mitmenschen reagieren würden, überhand nahm.

Diese junge Frau hat also nicht nur eine Angstattacke, sondern ihre Angst wird noch um ein Vielfaches verstärkt, weil sie sich Sorgen machen muss, wie die Menschen um sie herum, die Kollegen, die Chefs, reagieren. Zu allem Überfluss muss sie sich auch noch sorgen, dass die Ersthelfer und Ärzte sie nicht ernst nehmen werden. Und trotzdem spürt sie, dass sie Hilfe braucht, weil sie ihren Zustand nicht mehr kontrollieren kann. Sie versucht also, sich irgendwie zusammen zu reißen

Wenn du keine Vorstellung von einer Krankheit oder von einem Zustand hast, dann frag nach.

Angst ist nicht rational. Sie wird nicht kleiner, wenn man ihr sagt, es gäbe keinen Grund, Angst zu haben. Es gibt immer einen Grund. Nur ist dieser Grund nicht immer für alle anderen Menschen verständlich und nachvollziehbar. Für die junge Frau fühlt es sich real an. Ist doch egal, ob ihre Symptome psychisch beziehungsweise psychosomatisch bedingt sind. Wenn es für sie real ist, sollte es für alle anderen auch real sein.

Leider gibt es in dieser Gesellschaft die Tendenz, den Menschen ihre Gefühle und Empfindungen abzusprechen, besonders wenn sie für die Außenstehenden unangenehm oder unverständlich sind. Allzuoft wird betroffenen Menschen dadurch gezeigt, dass die Symptome, die sie haben, nicht „echt“ sind, nicht „schlimm“ oder schlichtweg ausgedacht, dass sie kein Recht haben, sich schlecht oder krank zu
fühlen oder schlimmstenfalls sogar selbst verantwortlich für ihr Leiden sind. Sollten wir nicht lernen, dass jeder Mensch verschieden ist, dass jeder Mensch verschieden empfindet und fühlt, und dass auch jeder das Recht darauf hat, dass diese Gefühle und Empfindungen da sind und diese ernst genommen und respektiert werden? Die Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung dafür ist zwar ganz allmählich zu spüren, aber in der alltäglichen Realität sieht es leider oft so aus: Es wird immer noch unterschieden zwischen den “echten” Krankheiten und den psychischen. Zwischen etwas “ernst zu Nehmendem” und so eingebildetem Quatsch, mit dem man auch einfach wieder aufhören könnte, wenn man sich denn nur ein bisschen Mühe gibt. Und das kann und will ich nicht mehr verstehen.

Wenn du keine Vorstellung von einer Krankheit oder von einem Zustand hast, dann frag nach, wie es sich für den Betroffenen oder die Betroffene anfühlt. Du musst es nicht nachvollziehen können oder auch nur verstehen. Alles was du tun musst, ist zuhören. Gib bitte mir und allen anderen Menschen mit psychosomatischen oder psychischen Krankheiten die Möglichkeit, offen darüber zu sprechen, so wie man auch über Erkältungen spricht. Es ist wirklich schwer genug, damit umzugehen und zu leben.

Stellung beziehen?

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich zu diesem Thema unter meinem echten Namen schreiben kann und sollte. Und ein Teil von mir war der Überzeugung, dass es ein gutes Statement für eine faire Behandlung in der Gesellschaft wäre. Ein Teil von mir wollte sich gerne gegen die Vorurteile und gegen die ungerechte Behandlung auflehnen und ganz klar Stellung beziehen.

Aber da gibt es noch diesen anderen Teil in mir. Und der möchte mich beschützen. Er sorgt sich darum, dass ich beim nächsten Bewerbungsgespräch darauf angesprochen werde, wie es mir gesundheitlich geht. Oder dass ich gar nicht erst für eine Stelle in Betracht gezogen werde, weil dieser Artikel mit meinem Namen in Verbindung steht. Hinzu kommt noch, dass ich diese Entscheidung für mich treffen kann, aber nicht die für die Person, von der ich berichtet habe. Und da bei dem Vorfall Menschen anwesend waren, die sowohl mich als auch sie kennen, haben ich mich dazu entschlossen, uns beide zu schützen. Darum erscheint dieser Artikel unter einem Pseudonym.

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