Wir sind Maximalmenschen – wir können alles, aber nichts richtig

Ein Griff, drei Auswirkungen: Drücken, klicken, falten. Mein Sitznachbar im Zug Richtung Berlin gehört zu jener Gattung Mensch, die ihr Leben durch Multifunktionalität zu optimieren versuchen. Mit wenigen Handgriffen verstaut er sein Alu-Klapprad auf der Kofferablage, lässt seine Thermosflasche geräuschlos in der Innentasche seines tarngrünen Armeeparkas verschwinden und scheint die Schwerkraft für einige Sekunden zu überwinden, als er sich beinahe schwerelos in seinen Sitz fallen lässt.

Während ich dieses meditative Szenario gespannt verfolge und dabei den souligen Sound aus meinen Kopfhörern nicht mehr wahrnehme, schaue ich mich in meinem Deutsche-Bahn-Mikrokosmos um: Hellbraune Krümel meines Dinkelgebäcks liegen beinahe kunstvoll drapiert auf dem silbrigen Gehäuse meines Laptops, die schmutzabweisende Fläche des kleinen Tischchens verschwindet unter Büchern, zwei Äpfeln und einer zerknitterten Tageszeitung.

Unsere Gesellschaft ist wie ein Schweizer Taschenmesser: alles können, aber nichts wirklich

Ich bin das Gegenteil von puristisch und der Schrecken eines jeden Schaffners. Ich mache regelmäßig das Unmögliche möglich, indem mein kürzlich erworbenes und hektisch in einer meiner fünf Reisetaschen gesuchtes Bahnticket in einem desolaten Zustand zur Kontrolle überreiche. Zu Recht fragt sich der mürrisch dreinblickende Kontrolleur, welche schwarze Magie dafür verantwortlich sein mag. Ich reise, wie ich lebe: Chaotisches Multitasking auf hohem Niveau, ich muss ja nicht alles können.

Der Anhänger an seinem Rucksack verrät mir, dass er, mein effizienter Mitreisender, Stefan Jansen heißt. Ohne ph, ohne Mittelnamen, alles kürzen und aufs Wesentliche reduzieren, das Zeit und Tinte kostet. Als sich Stefan nach seinem Rucksack beugt, wasserfest, isoliert, drehe ich meinen Kopf langsam in seine Richtung und hauche lasziv das Wort „Effizenz“ in sein Ohr, indem ich beide Z-Laute durch meine leicht geöffneten Lippen entfliehen und im surrenden Abteil verschwinden lasse. Er nimmt mich nicht wahr, wieso auch? Wer würde damit rechnen, dreisilbige Worte von einer Fremden in sein Ohr gehaucht zu ekommen? Außer mir wahrscheinlich nur ein minimaler Prozentsatz der Weltbevölkerung.

Der Maximalmensch: Jemand, der auf Abruf funktioniert und sämtliche Anforderungen an ein zeitgemäßes Leben erfüllt.

Stefan Jansens multifunktionales Wesens, von seiner Aura bis in seine Fußspitzen, beschäftigt mich. Daher kauere ich mich in meinem Sitz zusammen, blicke benommen über die an mir vorbeiziehende ostwestfälische Landschaft, danke dem lieben Gott, nicht in Bielefeld wohnen zu müssen, und erinnere mich an ein kürzlich geführtes Gespräch mit einer Freundin. Von ihrem Freund aufgrund eines beziehungsbedingten Burnouts verlassen, saß Sandra vor mir und verstand ihre strukturierte Welt nicht mehr, er war doch so klug, so sportlich, verantwortungsbewusst, belesen und liebevoll. Zudem konnte er kochen, nette Dinge aus Holz bauen und führte mehr oder minder erfolgreich sein eigenes Start-up. Es hätte alles so perfekt sein können, wäre da nicht sein Zusammenbruch gewesen, der darin gipfelte, dass seine Firma den Bach runter ging und er sich weigerte, jemals wieder seine Jogginghose auszuziehen.

Meiner Pflicht als verantwortungsbewusste Freundin nachgehend, sagte ich ihr, in den wenigen Sekunden Tränenpause, die sie mir gewährte, dass sie keinen Mann, sondern ein Schweizer Taschenmesser heiraten solle. Einen Maximalmenschen. Jemanden, der auf Abruf funktioniert und sämtliche Anforderungen an ein zeitgemäßes Leben erfüllt. Ein Berg aus XY-Chromosomen, der aus minimalem Input maximales Output generiert. Das ist es doch, worauf man uns zu konditionieren versucht, oder nicht?

Der Maximalmensch soll bis ins hohe Alter Leistung bringen

Wenn man heutzutage einen Single oder einen nach Personal suchenden Arbeitgeber fragt, was der signifikant Andere erfüllen muss, kann die Liste problemlos mit den Müller-Seiten in einem deutschen Telefonbuch konkurrieren. Wir suchen keine Nokias mehr, keine verlässlichen Zeitgenossen mit wenigen, aber zuverlässigen Eigenschaften. Wir suchen Smartphones, iPhones, mit unzähligen Apps, die den Akku bereits vor der ersten gemeinsamen Nacht sterben lassen. Wir suchen einen Maximalmenschen in der Hoffnung auf ein maximales Leben. „Aber ist es denn zuviel verlangt, dass ...“, ich unterbreche meine schluchzende Freundin, bevor sie sich mit laufender Nase in Rage redet. „Ja, ist es“, werfe ich ihr trocken entgegen. Es ist zuviel verlangt und macht, auf kurze oder mittelfristige Sicht, wahrscheinlich unglücklich. Denn ein Alleskönner kann, welch Überraschung, alles. Aber nichts wirklich. Und Wirklichkeit, Wahrhaftigkeit, Tiefe und Leidenschaft ist doch das, was uns umgeben sollte.

Mein iPhone sagt mir, dass es weder Netz noch Batterie hat, als ich meine Mutter anrufen möchte, um ihr zu sagen, dass ich gegessen habe und sicher, warm eingepackt und satt im Zug sitze. Der Bildschirm ist durchzogen von kleinen Macken, Kratzern des Alltags. Der Lack blättert an den Ecken ab und der Glanz des Apfels hat auch schon mal bessere Tage gehabt. „Ich bin doch kein Wegwerfobjekt!“, schimpfte meine Freundin wütend, während ihr zerlaufender Mascara Kriegsbemalungen auf ihrer linken Wange hinterlässt.

Wir sind zu menschlich, um in Raster zu passen und auf unsere Funktionalität reduziert zu werden.

„Vielleicht läuft es genau darauf hinaus? Wir entledigen uns nicht funktionierender Dinge. Noch vor der Halbwertszeit“. Sie schaut mich missmutig an. Ich weiß, die Wahrheit tut weh. Ein Phänomen unserer Gegenwart ist die geplante Obsoleszenz. Was soviel sagt, dass sie Lebensdauer eines Produkts absichtlich reduziert wird und damit im krassen Gegensatz zur sich konstant verlängernden Lebensdauer eines Menschen steht.

Während dieser ganze multifunktionale Scheiß, der uns das Leben einfacher machen soll, nach einem Jahr den nicht vorhandenen Geist aufgibt, soll der Maximalmensch bis ins hohe Alter Leistung bringen. Auf sämtlichen Ebenen. Ich schiele auf Stefans E-Reader der neuesten Generation und muss schmunzeln, obwohl es eigentlich nichts zu lachen gibt. Wir sind doch keine Sache.

Wir haben Haut, die blau wird, wenn wir uns stoßen. Ein Gedächtnis, das vergisst, und Herzen, die brechen. Wir sind geboren, um fehlbar zu sein, und dafür geschaffen, aus unseren Fehlern zu lernen. Wir sind zu menschlich, um in Raster zu passen und auf unsere Funktionalität reduziert zu werden. Ich möchte kein Klapprad und keinen Jack Wolfskin in meinem Bett wissen. Die Mathematik bezeichnet eine Funktion als Beziehung zweier Mengen, unsere Gegenwart macht daraus eine Beziehung zweier Menschen, die sich gegenseitig auf Funktionalität überprüfen. Stefans programmierte Bewegungsabläufe reißen mich aus meinen Gedanken, als er aufsteht, um seine multifunktionalen Habseligkeiten einzusammeln. Als er nach dem Klapprad greift, schreit er auf, da sich seine Finger im aufschnappenden Rahmen verfangen und nun blutend sein weißes Hemd versauen.

„Karma!“, denke ich mir, drehe mich wieder in Richtung Fenster und komme zu dem Entschluss, dass Menschen keine Gleichung, aber alle gleich sind.

Nur manche sind gleicher.


Titelfoto: © funkyfrogstock/Shutterstock

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