Wenn die Affäre plötzlich anders ist als alle anderen im Berliner Liebespoker

In meinem Handy habe ich ihn unter „Joker“ abgespeichert, obwohl ich weiß, dass er Robert heißt. Wir treffen uns seit einer Woche jeden Abend. Und eine Woche, das ist beinahe ein ganzes Berliner Jahr. Er und ich, das war etwas ungeplant Ungeahntes, das meine Art, mich zu verlieben, auf den Kopf stellte. Ich nannte ihn „Joker“, weil er ein Spieler war. Keiner dieser ordinären Herzensbrecher, die weder Manieren noch Anstand hatten. Der Joker, das war einer, der die Kunst des Spielens im wahrsten Sinne des Wortes verstand. Und das meine ich so, wie ich es sage. So verbrachten wir den mittlerweile sechsten Abend im SoHo House, diesem überästhetisierten Tempel urbanen Neo-Snobismus, der auf mich, obwohl ich mich voll und ganz den gutbürgerlichen Berliner Westen verschrieb, eine wahnsinnige Anziehungskraft ausübte.

Denn hier, über den Dächern der Torstraße, haben niedere Sorgen und Bedürfnisse keinen Platz. Der Raum wird von überdimensionieren Egos eingenommen. Von Zockern, Regelbrechern und Regelmachern. Von Mitläufern und Vorausläufern, hier und da stadtbekannte Halbmarathonläufer, die jeden Schritt auf Instagram festhalten müssen. Aber sie, die in die Arme der Aufmerksamkeit joggenden, drahtigen Kerle, sitzen am anderen Ende des Raumes. Das Klirren schweren Kristalls auf Art Deco-Glastischen, das helle, balzartige Lachen sorgenvoller Singles, die Rufe aus der Küche, urban Bossa im Hintergrund: Eine willkommene Geräuschkulisse, die jegliche Alltagsgedanken übertönte.

Der Joker, das war einer, der die Kunst des Spielens im wahrsten Sinne des Wortes verstand.

Der Joker führte mich an einen Tisch am Fenster. Vor uns offenbarte sich die hell erleuchtete Kulisse des Alexanderplatz, dessen eigentliche Hässlichkeit im schmeichelnden Schwarz der Dunkelheit etwas Magisches, Weltmännisches hat. Bis auf einen zurückhaltenden Kuss auf die Wange, ein leichtes Tätscheln meines Ellenbogens, berührte er mich kein einziges Mal. Doch genau das, fehlende Berührungen, löste weitaus mehr Energie in mir aus, als seine Handflächen und Fingerspitzen an meinen Schenkeln und Lippen jemals hätten bewirken können. Es war die kalkulierte Abwesenheit von Zuneigung, gepaart mit einzeln platzierten, vermeintlich unabsichtlichen Berührungen, die ihn zu meinem Joker machte. Ohne physischen Druck die Figuren fest im Griff haben.

An jenem Abend im SoHo House war es Schach. An den vorigen Abenden ließ er mich abwechselnd in Monopoly, Kniffel, Tabu und Mikado gewinnen und verlieren. Wir redeten kaum, deswegen waren wir nicht dort. Er bestellte teuren Wein, schenkte mir unentwegt nach. Doch weder in nüchternem noch angetrunkenem Zustand fragte ich mich auch nur eine Sekunde, was dieses ganze Theater sollte. Endlich schien etwas Sinn in all dieser Sinnlosigkeit Berlins zu ergeben.

Obwohl der Raum voller Menschen war und das Summen hunderter Gesprächsfetzen in der Luft lag, nahm ich nur das Pochen meines Pulses wahr. Ich lebte. Seine durchdachten Schachzüge wirkten beruhigend auf mich – und doch schlug mir das Herz bis zum Hals. In dieser Nacht war ich seine Dame, er mein König, gemeinsam gaben wir uns voll und ganz der Ordnung unseres Mikrokosmos hin, in dem die Regeln der Allgemeingültigkeit nicht galten. Er beobachtete meine Finger. Sie zitterten, während ich meine Dame weniger Millimeter über den schwarzen und weißen Feldern kreisen ließ. Er war ein Mann, der mich nichts in Bett, sondern einfach ans Brett bekommen wollte. Um nicht mich, sondern meine Spieler nach und nach flachzulegen. Bis ich Schachmatt war.

Liebe ist nicht fair und am Ende gewinnt nicht immer der, mit der besseren Taktik. Daher ist es umso schöner, sich in einer Welt fallen zu lassen, die keine Regeln mehr für die Liebe kennt.

Das Innere seiner Lippen färbte sich im Laufe des Abend durch den kräftigen Rotwein blauschwarz und ähnelte damit dem undurchdringbaren Schwarz des Himmels. Er legte mir seinen Mantel über die Schultern, während wir auf der Dachterrasse standen. Mitte unter uns, unsere Mitte in uns. Er war, in seinem dunkelblauen Hemd, das mich nur erahnen ließ, was sich drunter verbarg, Berlin für Fortgeschrittene. Das, was man erkennt, wenn man das Razzle Dazzle hinter sich lässt. Er war Berlin bei Nacht, Berlin am frühen Morgen. Ehrlich, erwachsen, einzigartig. Er war der Grund, weiter an jene magische Begegnungen zu glauben, die man sonst nur aus dritter Hand kennt. Der Joker machte keine Anfängerfehler.

Zum ersten Mal fühlte sich spielen richtig an. Weil ich mit einem Mann spielte, der seine eigenen Regeln anwendet, ohne meine zu verletzen. Auf dem Spielfeld der Liebe gibt es keine Auszeit, keinen Sechserpasch und keine 4.000 Mark, wenn man über Los geht. Jedoch besteht es aus unendlichen Tabus, Menschen, die sich ärgern, Wer-bin-ich-Momenten und einigen Assen. Liebe ist nicht fair und am Ende gewinnt nicht immer der, mit der besseren Taktik. Daher ist es umso schöner, sich in einer Welt fallen zu lassen, die keine Regeln mehr für die Liebe kennt.

Es ist vier Uhr morgens. Der Joker liegt schwer atmend in meinem Arm und ich kann nicht schlafen. Meine vorherige Langzeitaffäre schrieb vor wenigen Minuten. Der helle Nachrichtenton riss mich aus meinem ohnehin schon leichten Schlaf. Langzeitaffäre, so nennt man das hier, wenn beide nicht den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Ich muss meine Augen zusammenkneifen, um dieses eine Wort auf dem grell leuchtenden Bildschirm entziffern zu können. „Yo“, steht dort. Und „yo“ bedeutet: Hallo, bist du wach? Ich habe Lust! Treffen wir uns?

Wer einen Joker hat, der braucht kein Ass im Ärmel.

Lange nichts von ihm gehört, bestimmt vier Wochen. Und vier Wochen sind wie vier Berliner Jahre. Ich schaue auf das friedliche Gesicht des Jokers, wickle mich um seinen Körper und lächle in sein stockdunkles Schlafzimmer. Natürlich schreibe ich nicht zurück. Denn wer einen Joker hat, der braucht kein Ass im Ärmel.


Linda liest am 26.04. beim read!berlin Literaturfestivals. Ihr findet sie ab 21 Uhr auf dem "Literarischen Sofa", einem ganz neuen literarischen Konzept: lesen, Politik, lachen, Late Night-Talk. Mehr Infos gibt's hier.

Titelfoto: © Elmo Hood

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