"War schon schlimmer, wird wieder besser" – Auf der Suche nach dem Glück am Kottbusser Tor

Der Kiez rund um das Kottbusser Tor ist, immer noch und immer wieder, ein Problemkind. Besonders im letzten Jahr hat die negative Berichterstattung drastisch zugenommen und es vergeht fast kein Tag, dass der Kotti nicht wegen Überfällen oder Drogenhandel in den Schlagzeilen landet. Von mehr Polizeipräsenz wird geredet und die Stadtverwaltung zieht mal am einen, mal am anderen Hebel, um der Kriminalität, wachsenden Unzufriedenheit und Angst der Anwohner begegnen.

Als ich den Auftrag bekomme, genau dort nach glücklichen, gut gelaunten Menschen zu suchen, um ein Gegengewicht zu setzen gegen die fortschreitende Dämonisierung eines Orts, der für viele Treffpunkt, Arbeitsplatz und Heimat ist, muss ich schlucken. Es wird dieser Tage nicht leicht werden, so viel ist mir klar.

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Ich selbst, grade erst nach Berlin gezogen, war unwissend einige Male nachts am Kotti – er war für mich ein nächtlicher Umschlagpunkt fürs feiernde Jungvolk in Kreuzberg, nicht schlimmer oder besser als jeder andere U-Bahnhof der Stadt. Jetzt fahre ich mit mulmigem Gefühl mitten hinein ins angebliche Hornissennest und hoffe, dass mir wenigstens niemand mein U-Bahn-Ticket aus der Manteltasche klaut.

Während ich auf Fotografin Nora warte, habe ich noch etwas Zeit, um mich in Ruhe umzusehen. Der wolkenverhangene, stahlgraue Himmel hebt sich kaum ab von den verwaschenen Häuserfassaden ringsum und das Neue Kreuzberger Zentrum, der langgestreckte Wohnblock, trohnt schmuddelweiß im Nieselregen über dem Platz wie ein schon lange nicht mehr gewaschener Wachhund. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich den Kotti für einen der vielen gar nicht mal so schönen Verkehrsknotenpunkte halten, von denen Berlin einige hat.

Zwischen Verkehrsumschlagpunkt und Heimat

Ein junger Mann läuft strahlend auf mich zu und dann doch an mir vorbei – er begrüßt eine junge Frau, die neben mir steht. Kichernd haken sie sich unter und verschwinden bei Tadim, einem Dönerladen.

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Na also, denke ich, die waren doch schon mal happy. Kann ja nicht so schwer sein, hier noch weitere wenigstens für den Moment zufriedene Bewohner oder Besucher zu treffen. Mitten auf dem Platz steht ein kleiner Obst- und Gemüsestand. Als gerade der Himmel aufbricht und ein paar Sonnenstrahlen auf die Zitronen fallen, treten wir ein in das grün-weiße Plastikzelt.

Ob es wirklich so schlimm ist, wie alle sagen, fragen wir den jungen Verkäufer. Ja, sagt er, alles ziemlich scheiße gerade. Warum? Es kämen immer mehr mit schlechten Absichten, besonders seit etwa einem Jahr sei es schlimmer geworden, sagt er. Ich kaufe zwei Avocados für einen Euro und wir dürfen ein Foto machen. Ein bisschen lachen kann er trotzdem.

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Wir ziehen weiter in die Seitenstraßen rund um den Platz. Die Leute, die uns dort entgegenkommen, sehen meistens nicht so happy aus und ich bin nicht sicher, ob es die normale Berliner Ranzigkeit ist oder ob ich es nur so sehe, weil ich weiß, dass ich am Kotti bin. Das einzige, was glänzt, ist der silberne Polizeibus zwischen Skalitzer und Reichenbergerstraße.

Mehr Polizei löst die Probleme nicht, sondern verschiebt sie nur.

Zwei Spanierinnen warten mit ihren Kindern vor einem Fotoautomat und freuen sich. Als wir sie fragen, ob wir sie fotografieren dürfen, freuen sie sich noch mehr. Ob die auch von der dunklen Seite des Kotti wissen?

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In einem Antiquariat in der Oranienstraße erzählt uns der Besitzer, selbst seit 35 Jahren hier, die Probleme heute seien im Vergleich zu früher "Pipifax", damals in der Besetzerszene sei es noch ganz anders abgegangen. So viel ist klar: Die Kriminalität ist heute eine andere, aber sicherlich nicht weniger ernst zu nehmen als die Häuserkämpfe der 1980er. Im Schaufenster draußen fällt mein Blick auf Foucaults "Überwachen und Strafen" und ich finde das ein bisschen ironisch und ein bisschen bitter.

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Während wir so durch die Seitenstraßen und Läden stöbern, fällt unser Blick immer wieder auf kleine, bunte Inseln – am Spielplatz selbst flattert zwar Absperrband, aber ringsum finden sich allerhand kuriose Dinge. Der Fischladen zum Beispiel hat mindestens so viele Deko-Fische an der Wand wie in der Auslage.

War schon schlimmer, wird wieder besser

Und im Späti nebenan will sich zwar niemand fotografieren lassen, aber die Stimmung dort ist gelöst. Klar ist der Kotti eine schwierige Gegend, aber deswegen wegziehen? Pah. War schon schlimmer, wird wieder besser. "Wenn du mir einen baust, bin ich glücklich", sagt der junge Mann hinter der Theke und grinst.

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Dann, im Café Kotti, treffen wir Anna und sie kann uns viel erzählen. Davon, wie es ist hier zu arbeiten und davon, wie es ist, dem Ort beim öffentlich induzierten Niedergang zuzusehen. Seit zwei Jahren kellnert sie hier, tagsüber und auch nachts, und sie sagt, dass sie sich hier nicht unwohler fühlt, wie man sich eben an jedem anderen U-Bahnhof nachts unwohl fühlt, wenn man allein als Frau unterwegs ist.

Das Kottbusser Tor zur No-Go-Area zu erklären ist der falsche Weg.

Außerdem glaubt sie daran, dass mit mehr Polizei die Probleme nicht gelöst, sondern nur verschoben werden. Wenn die Dealer nicht mehr am Kotti bleiben können, suchen sie sich einen neuen Bezirk. Es sei schwierig, ein differenziertes Bild zu geben, erzählt sie weiter. Große Fernsehsender seien auch schon dagewesen, sie wollen am liebsten die ganz schlimmen Geschichten hören. Und die gibt es auch. Aber das Kottbusser Tor zur No-Go-Area zu erklären sei auch der falsche Weg.

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"Ich bin hier immer glücklick gewesen", schaltet sich der Besitzer des Café Kotti, Ercan Yaşaroğlu, neben uns am Tresen ein. "Es gab immer schwere Zeiten, aber der Kotti ist meine Heimat und die von vielen anderen. Es treffen so viele Kulturen und Menschen aufeinander, die Vielfalt ist toll."

Ich bin hier immer glücklick gewesen.

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Wir verlassen das Café Kotti, mittlerweile scheint wieder für ein paar Minuten die Sonne. So richtig viel preisgeben wollte niemand und wohin wir auch gehen, wird müde abgewunken: Die alte Leier vom bösen Kotti kann hier keiner mehr hören.

Die Suche nach den glücklichen Menschen am Kottbusser Tor ist also am Ende eher ein Streifzug durch einen gebeutelten, aber trotzigen Kiez geworden. Vielleicht ist das sogar die wichtigere Entdeckung: Statt unbeschwerter Zufriedenheit ist in schwierigen Zeiten Trotz die bessere Wahl für die Leute hier, wenn es darum geht, sich ein Stück bedrohter Normalität und Heimat zu bewahren.

Die alte Leier vom bösen Kotti kann hier keiner mehr hören.

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Fotos: © Nora Tabel

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