"Was willst du denn, du Wichser?" – Danko Rabrenović erzählt, wie man im Balkan flucht

Aus dem Buch: Herzlich Willkommenčić
Kapitel "Meine Dialog-App"

Ich wache auf und schaue auf die Uhr: 7:30 Uhr! Mist, schon wieder den Wecker nicht gehört! Schon wieder verschlafen! Weil wir Schlafmützen sind, haben meine Tochter Maja und ich unser Morgenritual auf die Sekunde genau ausgerechnet. Das funktioniert aber nur, wenn ich um exakt 7:00 Uhr aufstehe. Frühstück für die Schule machen, Maja wecken, anziehen, dann schnell ins Bad – und pünktlich um 7:55 in der Schule sein. An diesem Wintermorgen liegt Maja wie bewusstlos neben mir. Wie so oft hat sie sich in der Nacht ins Elternbett geschlichen. Uns bleiben nur noch fünfundzwanzig Minuten!

"Wach auf, meine Sonne", sage ich leise zu ihr.
"Wieso müssen wir immer nachts zur Schule?", fragt Maja im Halbschlaf.
Ich versuche locker zu bleiben: "Es ist halb acht morgens, meine Liebe, und wir sind mal wieder zu spät."
"Müssen wir wieder mit dem Fahrrad in die Schule fahren?"
"Nein, Mama hat heute frei, wir fahren mit dem Auto. Steh trotzdem schnell auf, es wird knapp."

Blitzschnell und wortlos – wie die Techniker in der Box eines Formel-Eins-Fahrers – tauschen wir unsere Pyjamas gegen Klamotten. Ausnahmsweise macht Maja keine Bemerkungen zu den Klamotten, die ich ihr in zehn Sekunden aus dem Schrank rausgesucht habe. Jetzt noch schnell zwei Brote mit Butter und Feigenmarmelade schmieren, in die Brotbox – und los geht’s: die Treppe runter, zu unserem Auto.

7:50 Uhr. Jemand hat uns zugeparkt. Ich fluche still in mich hinein. Zum Glück kommt in diesem Moment eine Frau aus dem Nebenhaus. Sie zieht einen Koffer zum Wagen, der unsere Abfahrt verhindert, und steigt ein. Wir sind erleichtert, ich starte den Motor. Aber was macht die Frau? Sie sitzt in dem Wagen, einem dicken SUV, aber sie fährt nicht los, macht noch nicht einmal das Licht an. Ich signalisiere vorsichtig und kurz mit der Lichthupe: "Hallo! Wir wollen raus aus der Parklücke, fahren Sie doch ein Stück vor oder zurück!" Keine Reaktion.

Maja: "Was macht sie da?"
Ich: "Das würde ich auch gerne wissen."
Maja: "Vielleicht wartet sie auf jemanden?"
Ich: "Aber wieso warten, die hat uns doch gesehen!"

Da uns die Zeit davonfliegt, draußen Minusgrade herrschen und ich um diese Uhrzeit generell nur ungern mit Menschen spreche, versuche ich zu manövrieren. Ein Stück vor, ein Stück zurück, ein Stück vor, ein Stück zurück. Schließlich kommen wir nach zwanzig Mal vor- und zurückfahren irgendwie raus aus der Parklücke – und die Frau schaut von ihrem SUV-Thron auf uns herab, als wären wir vom Himmel gefallen. Ich drücke kurz und genervt auf die Hupe, mehr Zeit zum Aufregen wir nicht.

Wenige Minuten später halten wir vor der Schule und sehen, wie die Kinder schon mit den Lehrern die Treppe zu ihren Klassenzimmern hochsteigen. Kurze Verabschiedung, Maja rennt los.

Als ich wieder in unsere Straße einbiege, kann ich es nicht fassen: Die SUV-Frau, die mit ihrem dickem Wagen so parkt, als gehöre ihr das ganze Viertel, hat sich nicht vom Fleck gerührt. Wenn mich etwas nervt, dann sind das rücksichtslose Menschen, die sich benehmen, als seien sie alleine auf der Welt. Meine Lust, trotz der frühen Uhrzeit zu sprechen, steigt von Meter zu Meter.
"Vorsicht, Danko, du bist hier nicht auf dem Balkan", sagt mir eine innere Stimme, "bleib cool!"

Doch wie reagiert man hierzulande in solchen Situationen? Ein wütender Deutscher mit Humor würde vielleicht so beginnen: "Oh, Sie meditieren hier ja immer noch, gnädige Frau!" Der zweite Satz würde – unabhängig vom Humorquotienten – den Ärger auf den Punkt bringen: "Was soll das? Das ist Nötigung, ich werde Sie jetzt anzeigen!"

Anders auf dem Balkan – dort würde es in so einer Situation direkter und emotionaler zugehen. Zum Beispiel so: "Pa jebote ti još uvek čačkaš pičku kozo jedna. Jebem ti sve po spisku!" Wenn ich aber der SUV-Frau auf Deutsch sagen würde: "Bist du immer noch am Masturbieren, du Schlampe? Ich ficke dich und deine ganze Familie! Hast du mich verstanden?", würde sie sicher rot im Gesicht anlaufen, sich in die Hose machen, mich für einen Vergewaltiger mit Migrationshintergrund halten und sofort verschwinden. Oder – was wahrscheinlicher ist – sie würde sich im Wagen verbarrikadieren und sofort die Polizei rufen. Auf dem Balkan müsste ich wahrscheinlich mit einer ganz anderen Reaktion rechnen: "Ma šta hoćeš bre drkadžijo, pa nisam ti ja kriva što ne znaš da voziš to govno od auta!" – "Was willst du denn, du Wichser? Ich kann nichts dafür, dass du mit deinem Scheißauto nicht richtig fahren kannst!"

Während die verschiedenen Dialog-Optionen durch meinen Kopf gehen, lass ich meinen Wagen direkt neben ihrem zum Stehen kommen. Ich öffne mein rechtes Fenster.

Ich: "Guten Morgen."
Sie: "Guten Morgen?"
Ich: "Meine Tochter lässt Sie grüßen."
Sie: "Ihre Tochter?"
Ich: "Ja, meine Tochter, die Ihretwegen eben zu spät zur Schule gekommen ist."
Sie: "Wie meinen Sie das? Ich kenne Ihre Tochter doch gar nicht."
Ich: "Sie wollten uns eben nicht aus unserer Parklücke rauslassen."
Sie: "Oh, das tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen."
Ich: "Kein Problem. Kann ja mal passieren. Haben Sie noch einen schönen Tag."
Sie: "Gleichfalls, auf Wiedersehen."

Manche meiner Balkanfreunde wären von meiner Reaktion sehr enttäuscht oder zumindest überrascht. Andererseits wäre meine Mutter wahrscheinlich stolz, dass ich nicht wie ein Macho-Balkanese ausgerastet bin.

Als ich wieder in der Küche unserer Wohnung sitze, überlege ich: Warum habe ich so reagiert? Bin ich jetzt etwa "zivilisierter" oder gar deutscher als vor zwanzig Jahren? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich beide Welten und Streitkulturen gut kenne. Wahrscheinlich hat der Alltag zwischen Deutschland und dem Balkan in meinem Hirn eine Art Dialog-App installiert. Eine Dialog-App, die mir hilft, je nach Situation zu entscheiden, ob ich der "böse Balkanese" bin – oder der charmante Junge mit Akzent.


Auszug aus Danko Rabrenovićs Buch "Herzlich Willkommenčić – Heimatgeschichten vom Balkanizer", das am 18. Februar 2015 im Dumont Buchverlag erscheint. Wir verlosen noch 2 Exemplare des Buches! Schreibt uns dafür einfach eure schönsten Flüche in die Kommentare. 

Wer der Balkanizer, wie Rabrenovic sich selbst nennt, eigentlich ist, könnt ihr in diesem schönen Porträt sehen:

Am 7.3. könnt ihr Rabrenović übrigens live im Badehaus sehen. Tickets dafür gibt es hier.


Dieser Artikel wurde vom Dumont Buchverlag gesponsert.
Autorenfoto: © Dejan Saric

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