Warum haben wir Angst, uns zu verlieben?

Anna und Oliver trafen sich auf einer Party von Freunden und kamen ins Gespräch. Sie redeten darüber, was sie im Leben antreibt, wie die Beziehung zu ihren Eltern ist und welche Superheldenfähigkeiten sie gerne hätten. Sie möchte unsichtbar sein. Er schwört auf Telekinese. Beide fühlten diese ungewöhnliche und augenblickliche Verbindung, die es selten gibt, und tauschten Nummern. Sie gehen aus, haben aufregenden Sex und sahen sich bald mehrmals pro Woche. Als sie eigentlich schon als Pärchen leben, warnt er sie: Er habe diese Angst – die Angst vorm Verlieben.

Die Sache mit der Liebe ist oft wie beim Pokern. Man setzt, taktiert und versucht das Blatt des Anderen zu erahnen. Und manchmal geht man All-In und verliert dabei alles. Auch 2015 ist dieses Spiel nicht einfacher geworden. Auf Tinder sind wir oberflächlich, auf Whatsapp durchgängig erreichbar und bei Instagram haben wir eine zweite Identität. Die neue Kommunikation mit ihren Smileys und Gelesen-Häkchen verkompliziert vor allem in der Anfangsphase das Taktieren. Fehlinterpretationen sind vorprogrammiert. Trotzdem spielen wir. Schließlich geht es um das Herzensthema und den großen Gewinn. Nur das Risiko. Das wollen wir oft nicht mehr eingehen.

Sie leben in einer Beziehung. Minus Titel. Plus Angst.

Oliver und Anna hatten die Anfangsphase überwunden. Und während er ihr an einem Morgen zuschaut, wie sie sich ihr schwarzes Kleid anzieht, merkt Oliver, dass er sie ehrlich gut findet. Sie ist schön und unkompliziert. Mit langen braunen Haaren und einem klaren Kopf. Trotzdem möchte er das Risiko nicht. Nichts Ernstes. Kein Klammern. Als er ihr sagt, dass er Angst vor dem Verlieben hat, überspielt sie und geht nicht weiter darauf ein. In enger Runde erzählt sie ihren Freunden später, dass sein Zögern verständlich sei. Seine vorigen Beziehungen hätten ihn unsicher gemacht. Und eine Angst sei schließlich dazu da, um überwunden zu werden. Wenn Anna dann zuhause ist, ist diese Überzeugung verschwunden. Dann gesteht sie sich ein, was seine Angst eigentlich bedeutet. Ein Über-Los-Gehen ohne Gefängnis. Ein Trennungsgrund ohne Vorwürfe. Ein Notausgang.

Wie die meisten von uns, ignoriert sie den Notausgang und die Über-Los-Gehen-Karte und trifft sich weiter mit Oliver. Sie reden über die letzte Folge von "Breaking Bad", haben wieder Sex und schlendern zusammen am Paul-Lincke-Ufer entlang. Sie leben in einer Beziehung. Minus Titel. Plus Angst.

Beim Herzensthema gibt es für sie auch in Zukunft nur einen richtigen Zug: All-In.

Drei Wochen später erzählt mir Anna am Telefon, dass sie es nach der letzten gemeinsamen Nacht im Ritter Butzke beendet hatte. Während sie in seinen Armen aufwachte, fühlte sie sich einsamer als während eines gewöhnlichen Kopfkaters. Sie fühlte die schlimmste Art der Einsamkeit. Eine Einsamkeit, ohne wirklich alleine zu sein. Also windete sie sich aus seinen Armen und seinem Leben und machte Schluss. Ein klärendes Gespräch über den Beziehungsstatus und ein "Ich hatte dich doch vorgewarnt! Ich kann mich nicht verlieben." hätte sie nicht ertragen. So kam sie ihm zuvor. Anna wusste, ebenso wie ich, dass es bei der Geschichte keine Moral gibt. Sie weinte ein paar Abende bei "500 Days of Summer" und Rotwein. Böse sein konnte sie ihm nicht. Und wütend auch nicht wirklich. Er hatte ihr von seiner vorgeschobenen Angst erzählt. Sie wusste, dass ihre Beziehung offiziell nie eine war.

Einen Vorsatz hat Anna dennoch mitgenommen. Das Mingle-Ding würde sie nicht mehr mitmachen. Und auf keinen Fall wolle sie so zynisch werden wie Oliver. Das Risiko der Liebe, erklärt sie mir gestern beim Wein, wolle sie weiter eingehen. Beim Herzensthema gibt es für sie auch in Zukunft nur einen richtigen Zug: All-In.


Titelfoto: Milena Zwerenz

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