Lieblingsort auf den zweiten Blick: Hermannplatz

© Charlott Tornow

Ich steige die Treppe vom U8-Gleis zum Hermannplatz hoch und merke, dass ich mich fürchte. Nicht vor Taschendieben oder pöbelnden Atzen. Nicht, weil ich denke, dass mir einer ans Leder will. Sondern weil jemand mein Geheimnis aufdecken könnte: Ich bin hier nicht richtig.

„Hast du vielleicht zwanzig Cent?“, fragt ein Süffel, kaum habe ich das Straßenpflaster betreten. Ich bleibe stehen, gebe ihm eine Münze. Zwei Hornbrillenträger, die hinter mir gehen, müssen dadurch einen Haken schlagen. Sie zischen mich an. Ich habe den Rhythmus ins Stocken gebracht. Als ich vor zehn Jahren nach Berlin kam, war es nicht anders. Ich weiß noch, wie ich in der U-Bahn verstohlen zu den anderen Fahrgästen schaute und mich fragte: Wie machen die das? Wie können die in diesem Moloch leben und dabei so gelassen sein? Ich war noch ein Kleinstadt-Pflänzchen.

Das ist lange her. Inzwischen hab ich gelernt, mich zu arrangieren. Heute kann ich beim Bäcker zur Tür reinspazieren, vollkommen abgebrüht und ohne den Blick zu senken meine Brötchen bestellen. Nein, Schrippen. Ich kenne mich in einigen Bezirken ziemlich gut aus, stehe wöchentlich auf der Bühne und lese Geschichten über den Berliner ennui vor, habe alle wichtigen Kneipen und Clubs von innen gesehen – und doch: Wenn ich den Hermannplatz betrete, ist alles wie früher: Ich bin wieder die Schönheit vom Lande.

Doch das Geländer, das die Mitte des Platzes umschließt, zwingt mich im Epizentrum der Hektik zu bleiben.

Der Süffel steckt das Geld ein. Die Hornbrillen hasten weiter, ein verächtliches "SPAST" auf den Lippen. Ich gehe Richtung Sonnenallee, würde gern auf die andere Straßenseite wechseln. Doch das Geländer, das die Mitte des Platzes umschließt, zwingt mich im Epizentrum der Hektik zu bleiben. Andere klettern einfach darüber, doch so nonchalant bin ich hier nicht. In Mitte, in Prenzlberg würde ich keine Sekunde zögern. Am Leopoldplatz, wo ich mich auch unter Junkies, Strichern, Irren bewege, wäre ich längst drüber geflogen, leicht wie eine Gazelle. Wahrscheinlich mag ich den Hermannplatz deshalb. Er hemmt mich. Lässt mich die Fremde spüren. Ich bin hier nicht richtig. Und alle sind cooler als ich. Die Habibis vor der Shisha-Bar. Die Hipster aus Weser- und Friedelstraße. Sie wohnen hier. Erleben den Platz als völlig alltäglich. Vielleicht haben DIE Schiss, wenn sie am Leo sind? Obwohl ich das nicht glaube.

Berlin, Hermannplatz Berlin, Hermannplatz

Vorsichtig gehe ich über den Markt. Versuche niemandem in die Quere zu kommen. Den Verkäufern pakistanischer Taschen und Schuhe. Den Touristen, die so zielstrebig sind in ihrem Verlangen, Schmuck oder Crêpes zu kaufen. Selbst die scheinen sich hier heimisch zu fühlen. Vor dem trostlosen Denkmal in der Mitte des Platzes steht ein buckliges Mütterchen. Sie wirkt verloren, dabei wohnt sie hier bestimmt schon seit einem Jahrhundert. Als ich näher komme, höre ich, dass sie auf „die Kanaken“ schimpft. Die Kanaken in Reichweite lauschen und wirken belustigt. Irgendwie muss man sich schließlich beschäftigen.

Kaum zu glauben, dass hier überhaupt Menschen leben.

Ich gehe weiter, vorbei an Manni’s Currywurst-Turm. Established 1984. Da war für andere schon die Zukunft zu Ende. Gehe vorbei an der grauen Fassade des Day Inn Hotels, dem einzigen Neubau auf dieser Seite. Daneben stehen noch die Schinken aus der Kaiser-Wilhelm-Zeit. Was da wohl die Mieten kosten? Sicher nicht wenig. Kaum zu glauben, dass hier überhaupt Menschen leben. Ich gehe zu meiner Freundin Maria, die ein Café in der Reuterstraße betreibt. BARETTINO. Werde herzlich empfangen. Bin zuhause für den Moment. Kann nicht verstehen, was in mich gefahren ist.

Doch kurz darauf steh ich wieder am Hermannplatz. Und alles ist neu und fremd. Ich bin hier nicht richtig. Ich bin ein Suchender. Voller Sehnsucht.
Ich mag den Hermannplatz. Denn Sehnsucht ist ein gutes Gefühl.


Beim letzten Mal hat uns Milena ihren Lieblingsplatz, die Warschauer Straße, vorgestellt.

Fotos: © Charlott Tornow

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