Berlingeschehen – Warum die Kids vom Dorf Silvester in Berlin lieben

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Die Straße brennt. Schüsse knallen in den Häuserschluchten. Die Gesichter vorbeidrängender Menschen wirken verzerrt im Blitzlichtgewitter der Explosionen. So stell ich mir Bürgerkrieg vor. Aber es ist nur Silvester im Wedding um 18.30 Uhr.

"Wow, ist das geil!", ruft mein Freund Tibur, der eigens für diesen Anlass aus seiner Kleinstadt angereist ist. Routiniert ziehe ich ihn zur Seite, als eine Flaschenrakete seinen Kopf um eine Handbreit verfehlt. "Ist das hier jedes Jahr so krass?"
"Bis jetzt kommt es mir ziemlich ruhig vor."

Wir passieren eine Gruppe zehnjähriger Gören, die vor einer Kneipe Stellung bezogen haben und die unbedarften Gäste mit Böllern bewerfen. Auf dem Balkon darüber steht ein Orientale im Hertha-Trikot und ballert mit Hingabe ein Magazin seiner Schreckschusspistole nach dem anderen leer. Vielleicht ist es auch keine Schreckschusspistole.

"Wie weit ist es zur Kulturbrauerei?"
"Wir müssen ein Stück mit der U-Bahn fahren."
Tibur nickt eifrig. Ich habe längst versucht ihm zu erklären, dass eine Sangria-Party im Kesselhaus nicht cool ist. Doch gegen seine Euphorie gibt es kein Mittel.

Wie immer ist der U-Bahnhof ein beliebter Ort, um die lautesten Knaller zu testen. Auf der Fahrt Richtung Mitte lerne ich überdies, dass auch IM Zug inzwischen gern Feuerwerk abgebrannt wird. Eine Frau mit Hund findet das nicht so schön. Tibur kriegt einen Hustenanfall von den Schwarzpulver-Schlieren. Die Kreuzung Eberswalder Straße/Schönhauser Allee ist ein Schlachtfeld. Spanische Touristen stehen kotzend Spalier. Aufgekratzte Cliquen brandenburgischer Einzelhandelskauffrauen auf Betriebsausflug tragen Pfläumli-Deckel auf den Nasen spazieren und stürzen sich auf jeden Mann, der nicht schnell genug flieht.

"Alter, das fetzt!", kreischt Tibur außer sich.
"Ja", seufze ich. "Die Stimmung ist geradezu magisch."
"Lass dich doch mal mitreißen!"
"Tu ich ja. Mein Skrotum kribbelt ganz aufgeregt."

Wir bahnen uns einen Weg zur Kulturbrauerei. In den Rinnsteinen türmen sich Flaschen. Parkende Autos sind von Brandflecken übersät. Auf den Motorhauben schlafen Amateurtrinker, die sich wieder mal überschätzt haben.

"Wollen die alle zur Party?", fragt Tibur, als wir uns anstellen. Die Schlange ist zweihundert Meter lang. Große, stolze Menschen, geschmackvoll geschminkt. Nur die Crème de la Crème versammelt sich um Acht zum Sangria-Trinken. "Ich denk schon", sag ich, doch Tibur ist längst in ein hysterisches Gespräch mit zwei Camp-David-Atzen vertieft.

"WAS? IHR SEID AUCH NICHT VON HIER? PROST! ACH, GÜTERSLOH? JA, DER HAMMER. DAS IST BERLIN! ICH SAG'S EUCH! DAS IST FUCKING BERLIN!!"

In dem Moment zerplatzen über uns Blumen aus Farbe und Licht. Die Menschen in der Schlange öffnen staunend den Mund. Auch Tiburs Blick ist glasig vor Wonne.
"Das ist der beste Tag meines Lebens."
"Geht mir genauso", sag ich und stecke mir eine Kippe an.
"DAS IST DER BESTE TAG MEINES LEBENS!", brüllt er nochmal und entfacht damit tosenden Jubel. Die Schlange hat sich derweil noch keinen Meter bewegt. Vielleicht schaffen wir es bis zum Jahreswechsel hinein. Hauptsache, es gibt noch Sangria.


Beim letzten Mal hat Clint darüber geschrieben, was passiert, wenn man versucht, das Jesuskind auf dem Weihnachtsmarkt zu klauen.

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