An der Ecke: Pistoriusstraße / Woelckpromenade

Unsere Eckensteherin Anja hat sich diesmal an die Ecke Pistoriusstraße-Woelckpromenade nach Weißensee begeben. Hier wiegt sich das Leben zwischen Vergangenem und Gegenwart, zwischen Kleinbürgerlichkeit und großen Träumen. Anja trifft den alleinerziehenden Vater Andrés, eine ältere Dame mit dem schönen Namen Eleonore und eine Line-Dance-Tänzerin.

An der Ecke Pistoriusstraße-Woelckpromenade steht das soziale Wohnheim "Die Reha". Es hat schöne, rote Backsteine und große, alte Fenster. Vor dem Eingang steht Marko und dreht sich eine Zigarette. "Wenn Freunde da sind, sind sie da und wenn sie weg sind, sind sie weg", sagt er. Das sei schon ok. Freunde sind ihm nicht so wichtig. Eine "Perle" hätte er im Moment auch nicht, aber das macht nichts. Das Leben sei gar nicht so schwierig, man"„muss es halt einfach… leben". Er sagt das sehr langsam mit einer langen Pause vor dem letzten Wort.

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"Im Moment hab ich keine Perle."

Eine Postbotin beginnt gegenüber in dem kleinen, roten Plattenbau ihre Briefe zu verteilen. Hinter den Fenstern alte Stickgardinen und hier und da ein paar Geranien am Sims. Aus dem obersten offenen Fenster weht eine Deutschlandfahne. Ein Mann in einem rosa-farbenen Hemd, mit Aktentasche unter dem Arm, überquert den Zebrastreifen. Er ist 86 und lebt schon immer hier in Weißensee. 59 Jahre ist er schon verheiratet. Das sei die beste Entscheidung in seinem Leben gewesen, "diese Frau". Aber Biologe wäre er gerne geworden und nicht Historiker, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte. Warum er es denn nicht geworden ist, frage ich. Er lacht spöttisch: "Na, Sie sind ja gut. Der Mensch ist abhängig von seinen Bedingungen. Damals war es schwierig überhaupt irgendwas zu werden."

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"Wenn man nicht im Lotto spielt, dann kann man nicht im Lotto gewinnen."

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Das letzte Haus an der Straße mit Blick auf den See wird gerade renoviert. Vor dem Eingang stehen drei Bauarbeiter und rauchen. Der Jüngste heißt Andrés und ist alleinerziehender Vater von drei Mädchen, 9, 13 und 19 Jahre alt. Schwierig sei das, ja, eigentlich fast unmöglich. Seine Frau hätte einen Anderen, sie sähe ihre Töchter kaum noch und zahle auch keinen Unterhalt. Andrés hat ein großes, silbernes Kreuz um den Hals hängen, sehr lange Wimpern und dahinter freundliche Augen. "Meine Jüngste sagt immer: Später werde ich Ärztin, Papa, dann musst du nicht mehr arbeiten“. "Früher war alles besser“, finden André und Lothar, "im Osten war alles besser“. Und die Freiheit? Lothar lacht. „Wegfliegen ist doch heute och nicht, das kann doch keener bezahlen", und, "die Beschattung und Bespitzelung watt jetzt heute ist, dagegen ist die Stasi doch ein Muttersöhnchen.“

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"Tschechei, Russland, da gibts auch schönes Meer, da gibts auch schöne Palmen."


An der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite sitzt Alma und wartet auf den Bus. "Warten, das kann ich gut", sie lacht. "Mein Leben war nicht so spannend“, meint sie, als sei es schon vorbei. Sie ist höchsten 60, hat rote Haare und leuchtend blaue Augen. "Es gab kaum Hochs und keine Tiefs, es war immer – so", sie hält ihre Hand vor den Bauch und bewegt sie gerade und sehr langsam von links nach rechts. Der Bus kommt. Schöne Reisen hätte sie aber gemacht. "Leningrad bei Nacht, das kann mir keiner nehmen", sie lacht und steigt ein.

Der Bus fährt die Straße runter auf den seltsamen Turm am Ende der Straße zu. Links steht ein jugendstilartiges Backsteingebäude, das aussieht wie ein Kirche, rechts eine leere Wiese mit einer einsamen Bank und einem großen, gelben Plakat mit der Aufschrift: "Tanztee – Sonntag 15.30 – 18.30." Irgendwie wirkt diese Ecke, als wäre sie aus der Zeit gefallen.

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"Ich will zur Bundeswehr, weil irgendwie fasziniert mich das."

Eleonore weiß auch nicht, was das eigentlich für Gebäude sind. Sie hat sich zu mir an die Bushaltestelle gesetzt, um kurz zu verschnaufen. "Ich finde, es sieht hier aus, wie in einer süddeutschen Kleinstadt", sage ich. Eleonore war noch nie in Süddeutschland. Ihr Gehwagen ist behangen mit ihren Einkäufen. Sie wirkt müde und sehr erschöpft. Sie erzählt, wie sie einmal verschüttet war, für ein paar Tage, damals im zweiten Weltkrieg, als eine Bombe in ihrem Haus hochging, hier gleich um die Ecke, hier in Weißensee. Sie überlegt: "Aber wenn ich daran denke, wie viele Bewerbungen meine Enkelin dieses Jahr geschrieben hat, ohne Erfolg, dann glaube ich, heutzutage ist es auch nicht einfach." Ich frage, ob sie sich auch an etwas Schönes erinnert. Sie überlegt lange. "Naja... Momente“, sagt sie, "schöne Momente hat es immer gegeben.“

Sie lässt mich etwas ratlos zurück. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis sie den Zebrastreifen überquert hat, sie verschwindet hinter den parkenden Autos und taucht wieder auf, sie bleibt stehen, atmet durch und geht weiter bis sie aus meinem Blickfeld verschwindet. Die Straße ist für einen Moment leer.

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Eine Schulglocke läutet. Von links nähert sich eine Traube Schüler der Bushaltestelle gegenüber, Fahrräder überqueren die Straße und verschwinden im Park, eine Gruppe Jungs läuft mit Blick aufs Handy in einen Mann mit Hund. Die Ecke ist plötzlich voll und laut. Ein kleines Mädchen setzt sich allein auf die Bank hinter die Bushaltestelle. Sie ist 11 und will Paliantologin werden. Sie ist sehr hübsch, aber weiß es noch nicht. "Ich mag alte Knochen“. Ihr Opa sei damals aus dem Osten in den Westen geflohen. Er hätte ihr eine große Kiste hinterlassen, sie hätte zwei Wochen gebraucht, um sie zu öffnen, sie musste die ganze Kiste mit einem Hammer kaputt schlagen. Alle seine persönlichen Erinnerungen wären da drin gewesen. Sie will nicht verraten, was genau sie gefunden hat. "Das ist unser Geheimnis“, sagt sie.

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"Ich mag alte Knochen."

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"Vor der Wende waren alle ehrlicher, aber das wissen sie ja auch, sie sind ja nicht dumm."

Der Bus sammelt die letzten Schüler ein und es wird wieder still. Von links nähert sich schnellen Schrittes eine gut gelaunte Frau mit grauem Kurzhaarschnitt. Sie habe es eilig, sie gehe jetzt zum Line Dance. Wie geht denn das, Line Dance, frage ich. Sie sagt „So!“ und beginnt zu tanzen.

Unsere Eckensteherin war das letzte Mal an der Ecke Kollwitzstraße/Wörtherstraße.

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