An der Ecke: Kollwitzstrasse / Wörtherstrasse

An der Kollwitz-Ecke Wörtherstrasse zwei Schranken wie das Tor zu einem Vergnügungspark. Es ist Samstag, es ist Wochenmarkt. Der erste Spargel, feines Porzellan, selbst gemachte Marmelade und Freilandeier. Massen an Pollen segeln wie Fallschirmchen auf die Kollwitzstrasse, zwei kleine Jungs springen nach den Fluggeräten. Unsere Eckensteherin Anja hat sich an die wohl typischste Ecke im Prenzlauer Berg gestellt und zugesehen.

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Die Sonne scheint durch die Bäume Muster auf den Asphalt, die Leute frühstücken aus Etageren auf dem Bürgersteig. Eine Mutter stillt ihr Kind auf einer Bank, ich laufe hinter einem küssenden Pärchen die Strasse runter zum Kollwitzplatz. Neben mir geht eine Frau mit Kinderwagen in gleicher Richtung, auf 12 Uhr herrscht eiliger Gegenverkehr mit einem Zwillingswagen. Ein laues Lüftchen löst neue Fallschirme aus den Bäumen, die Jungs rennen los – mit Blick nach oben in den Zwillingswagen rein. Einer fällt und schreit, der andere rennt weg. Eine Frau, offensichtlich die Mutter, löst sich aus der Schlange bei Butter Lindner und läuft Tröstendes rufend zu uns, kniet sich zu ihrem Sohn und fragt: “Wilhelm, wo ist Noah!?”

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Ein sehr schöner Blumenstand verkauft vier Ranunkeln und ein bisschen Schleierkraut für 13.50 Euro, daneben Elsässer Sekt und Erdbeerbowle an Stehtischen mit weißen Tischdecken. Ein Touristenpärchen in gleichen Funktionsjacken bestellt sich zum Sekt eine Currywurst mit 20 Karat Blattgold und Trüffelpommes. Wie bitte? Tatsächlich. Auf der Karte nennt sich das Yuppi-Menü und es kostet 15 Euro. Ein knapp 20-Jähriger in Kordhose und Tweedjacket mit Einstecktuch steht einfach so allein da und raucht eine Zigarre. Weltmännisch und nachdenklich schaut er seinen Rauchwolken hinterher. Mich zieht es zu dem Tisch mit den grossen Küchenmessern. "Man könnte definitiv damit töten", sagt der freundliche Verkäufer. „Die Klingen sind sehr gut“, ich solle das mal probieren an einer Karotte. Mach ich.

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Hinter den Ständen spielt Pedros mit seiner Band für die Leute auf der langen Bank um den Platz. Kim, Anna und Sam sonnen sich bei einer Flasche Rotkäppchensekt. Sie wohnen seit 20 Jahren direkt am Platz und nennen das hier ihren „verlängerten Balkon“. Für ihre Warmmiete kriege man heute nicht mal mehr ein WG-Zimmer in Hellersdorf, sagt ein Nachbar lachend. Bei Mohammed gegenüber gibt es sehr leckere Fallafel. Er schreit erfolgreich den ganzen Markt zusammen. Sein Sohn Khaled verkauft daneben seine alten Pokemon-Sammelkarten auf einer Picknickdecke. „Wir sind so“, lacht Mohammed, „wir sind Händler.“  Und dann spricht er von Thilo Sarrazin.

Ein paar Meter weiter hat Karta einen sehr kleinen Stand mit Lavendel, sie zeigt mir Bilder von der Lavendelernte in Kroatien. Sie hat eine Bombenlaune und ganz rote Wangen, als käme sie gerade direkt aus dem Lavendelfeld. Ein Pärchen mit Kinderwagen kreuzt mit einem Teller Austern und geht zum Spielplatz. Karta verschwindet unter dem Stand und kommt mit Rosenschnaps wieder. Sie besteht darauf, dass ich ein Glas mit ihr trinke. Mein Laune verbessert sich schlagartig. Alles klar. Ich kaufe nebenan ein Glas Winzersekt, der laut Tafel „sehr feingliedrig und dennoch rassig“ zu sein verspricht, und setze mich zu den alkoholisierten Eltern an den Spielplatz.

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Die Kinder hängen wie Trauben im Klettergerüst, die Eltern sitzen mit Wein und Sekt am Rand und reden. Ein kleines Mädchen kommt zu mir und zeigt mir schweigend einen abgerissenen Fischkopf . Über dem Auge klebt noch ein bisschen Zitrone. Sie legt den Fischkopf vor meine Füße wie eine Katze, dreht sich um und geht. Sie ist vielleicht zwei Jahre alt und steckt mit ihrer dicken Windel in einer Röhrenjeans. Sie wackelt umständlich durch den Sand weg und sieht aus wie eine kleine, tanzende Miniatur von J-Lo. Ein junger Typ setzt sich zu mir und beginnt mir ein Abo für die Süddeutsche Zeitung zu verkaufen.

Ich flüchte zurück zum Markt, auf der anderen Seite des Spielplatzes. Ein grosser Wagen mit zwei Pferden wird mit Kindern beladen. Zwei Mädchen spielen wahnsinnig schlecht Geige. Zwischen einem Stand mit mannsgroßen, gehäkelten Fernsehtürmen und dem Forellengrill sitzt ein Verkäufer des Strassenfegers sehr aufrecht auf einem kleinen Campinghocker und hält die aktuelle Ausgabe mit dem Titel „Krieg“ in der Hand.

IMG_8064-2 IMG_8054-3"Ich wurde unter einem Kirschbaum in der Provence gezeugt."

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IMG_8021-2"Der Kollwitzplatz ist unser verlängerter Balkon."

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IMG_7898-2"Pokemon ist was für Babys."

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Unsere Eckensteherin war das letzte Mal an der Ecke Beusselstrasse / Turmstrasse.

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