Tag der Deutschen Einheit – Schluss machen mit einem System

Der Tag klingt bescheuert. So wie die meisten Feiertage vom Namen her irgendwie bescheuert klingen. Tag der Deutschen Einheit. Aber was soll man machen? Ich bin im Osten groß geworden. Nun ja. Mittelgroß. Ich war fünf Jahre alt, als die Mauer fiel und kann mich an nichts mehr groß erinnern. Das, was ich vom Tag der Deutschen Einheit weiß, kenne ich aus Geschichtsbüchern, von Erzählungen und Fotos, aus Fernsehdokumentationen und Gesprächsfetzen. Die kann ich mir zusammenbauen zu einem Bild, einer Vorstellung, einem vagen Gefühl. Im Grunde war der Tag der Deutschen Einheit für mich aber etwas ganz anderes. Es war der Tag, der Schluss machte mit meinem Kindergarten. Der symbolisch Schluss machte mit einem System, das mich hier und da versaut hat. Ich erkläre das jetzt nicht en detail, ich erzähle nur, warum mir immer noch Schauer über den Rücken laufen, wenn dieser Tag kommt. Und zwar nicht aus Heimatverbundenheit oder so was, sondern weil er mich erinnert an eine Zeit, die ich nicht zurück möchte. Eine Zeit, von der ich froh bin, dass sie für viele Menschen vorbei ist. Unter anderem aus den folgenden Gründen.

Halb sieben Uhr morgens. Ich komme an der Hand meiner Mutter aus dem Haus. Auf dem Bürgersteig gegenüber stehen die zwei Männer, die dort jeden Morgen stehen, und ich begrüße sie beinahe. Meine Mutter findet das mit dem Begrüßen nicht gut. Sie folgen uns manchmal bis zum Kindergarten.

Sieben Uhr morgens. Ich stehe in der Tür, müde, verschlafen, jeden Morgen wieder. Ich bin ein Mädchen, das keine Puppen und keine Zöpfe mag. Ich werde der Puppenecke zugeordnet, weil ich mir nicht aussuchen darf, was ich spiele. Die Jungs kommen in die Bauecke, die Mädchen in die Puppenecke. Ich finde das ungerecht und beschwere mich. Daraufhin wird mir angekündigt, den Mittagsschlaf auf einer Liege im Badezimmer machen zu müssen.

Zwölf Uhr mittags. Wir sitzen vor Tellern mit Kartoffelsuppe. Kartoffelsuppe mit Speckschwarte. Ich bin ein Kind, das nicht schlucken kann, was es nicht vermag zu kauen. Neben dem Tablett, auf dem man die leeren Teller abstellen soll, steht ein kleiner roter Eimer für die Reste. Für die symbolischen Reste. Macht ein Kind wirklich Anstalten, Reste darin zu entsorgen, wird es bestraft. Ich bin ein Kind, das Strafe gerne aus dem Weg geht, also sammle ich die Speckschwarte aus meinem Essen und verstecke sie in meiner Hosentasche, um Geschrei aus dem Weg zu gehen und irgendwie aufessen zu können. Meine Mutter wird die Reste abends vorm Schlafengehen in meiner Hose finden.

Ein Uhr mittags. Wir sitzen im Stuhlkreis mit kleinen Tellern voller Apfelstückchen auf dem Schoß. Ich bin ein Kind, das Apfelschale nicht mag. Meine Mutter wird daraufhin in den Kindergarten bestellt, ihr Kind würde das System boykottieren, alle müssten gleich sein, das könne doch nicht sein. Die Erzieherin bricht beim Unverständnis meiner Mutter in Tränen aus. Ich bekomme daraufhin geschälte Äpfel mit in den Kindergarten, damit alle Kinder in Ruhe im Kreis ihre Äpfel essen können.

Mittagsschlaf. Wir liegen auf Liegen ohne Matratze. Es gibt Matratzen, aber die werden aus irgendwelchen Gründen, die wir nicht verstehen, nicht auf die Liegen gelegt. Manchmal wenn wir reden, weil Kinder nun einmal reden, wenn sie nicht schlafen können, werden wir in diese Matratzen gewickelt und an die Wand gelehnt, damit wir still sind. Wir könnten das lustig finden, weil wir aussehen wie kleine Hot Dogs, finden es aber nicht lustig, weil wir uns nicht bewegen können und unsere Beine nach mehreren Minuten müde werden. Niemand sagt uns, wann das vorbei ist. Wenn ich auf der Liege schlafe, habe ich auf dem Rücken zu liegen, auf der Seite liegen wird ermahnt, die Hände haben über der Bettdecke zu sein, das müssen alle so machen, sonst wirst du samt Liege eventuell ins Bad gestellt neben die Toiletten. Das ist manchmal sogar okayer als bei den anderen zu sein, denn dort kann man die Hände wenigstens hin tun, wo man will.

Zwei Uhr nachmittags. Die Erzieherin hat Kopfschmerzen. Wir sitzen alle um den Tisch mit gefalteten Armen und haben einen Finger auf den Mund zu legen, damit wir nicht laut sind. So sitzen wir und schauen einander an. Wer lacht oder kichert, wer nicht still sitzen kann, muss die Hände hinter dem Rücken und der Stuhllehne verschränken und ihm oder ihr wird ein Stift darauf gelegt. Fällt der Stift herunter, wird man bestraft. Wir sind alle vier oder fünf Jahre alt.

Drei Uhr nachmittags. Ich habe irgendetwas gesagt, das jemandem nicht gepasst hat und muss mit ins Erzieherinnenzimmer. Dort werde ich auf den Stuhl neben der Tür gesetzt. Dort muss ich sitzen und still halten. Wenn ich mit den Füßen baumele, wird geschimpft. Und anlehnen geht nicht, denn dann kommt der Kopf an den Lichtschalter und knipst das Licht aus. Man muss gerade sitzen. Wer nicht still und gerade sitzen kann, wird bestraft.

Vier Uhr nachmittags. Ich werde abgeholt. Es gibt keine schönere Zeit am Tag als die Zeit nach vier Uhr.

Foto: Kathrin Huth

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